Warum das fragmentierte Video-Ökosystem keine Währung braucht
Karsten Zunke, 7. April 2025
Seit mehr als zehn Jahren wird über eine konvergente Währung für Bewegtbildwerbung diskutiert. Bis heute gibt es sie nicht. Zu Recht, sagt Marin Curkovic, CEO und Mitgründer von All Eyes On Screens (AEOS). Aus seiner Sicht ist dieser Wunsch unrealistisch. Warum die Branche lieber technologisch weiterkommen sollte und wie Messung sowie Rückkanaldaten helfen, die Wünsche der Advertiser zu erfüllen, darüber haben wir mit ihm im Interview gesprochen.

ADZINE: Bewegtbild erfreut sich größter Beliebtheit, aber die Kanäle sind stark fragmentiert. Wie schätzt du die aktuelle Marktsituation ein?
Marin Curkovic: Die Fragmentierung prägt den Markt. Ich benutze gerne ein Zitat aus dem Jahr 2010: „TV is not dying, it’s having babies.“ Das finde ich sehr passend. Bewegtbild wird oft als Gesamtes betrachtet, aber wir stehen noch eine Stufe vor der eigentlichen, großen Herausforderung, die lautet: Big Screen versus Small Screen. Diese beiden Welten existieren zurzeit nebeneinander. Wir reden noch gar nicht darüber, sie zu verschmelzen. Stattdessen geht es zunächst einmal darum, den Big Screen aus seinen verschiedenen Fragmentierungen zusammenzuführen. Da stehen wir heute.
ADZINE: Braucht es dafür eine einheitliche Währung?
Curkovic: Die Idee einer einheitlichen Währung halte ich für die falsche Diskussion. Die AGF macht einen anerkannten Job in Bezug auf die TV-Währung. Aber aus digitaler und holistischer Perspektive ist ‘Währung’ das falsche Wort. Wir befinden uns in einem freien Markt, und die digitale Seite von Bewegtbild hat keinen Bedarf an einer Währung gezeigt.
ADZINE: … hat sie nicht?
Curkovic: Im Digitalen gab es Ansätze wie IVW, AGOF und andere, die nicht funktioniert haben. Es war ein sehr deutsches Phänomen, dass es überhaupt so eine Anstrengung gab. Die Tatsache, dass es heute keine Währung gibt, stört das Wachstum der digitalen Seite nicht – weder hier noch global. Die Frage ist: Würde eine Währung auf digitaler Seite nicht alles unnötig kompliziert machen? Wer braucht eine Währung? Ein Monopol, ein Duopol oder ein geschlossenes System benötigt Währungen. Ein fragmentiertes System hat aber per se kein Interesse daran.
ADZINE: Kannst du das bitte etwas näher erläutern.
Curkovic: Eine Währung ist ein Siegel auf einer gemessenen Zahl. Doch dieses Siegel werden wir im digitalen und konvergenten Raum niemals realisieren können. In der digitalen Welt gibt es Walled Gardens, die kaum Zahlen preisgeben und selbst ihre Spendings nicht über Nielsen melden. Das Wort ‚Währung‘ würde ich deshalb komplett infrage stellen. Sobald ein wichtiger Player nicht mitmacht, fällt das Konzept Währung in sich zusammen. Dabei wäre die Nachfrageseite bereit, eine gemessene konvergente Zahl zu akzeptieren, selbst wenn auf ihr kein Stempel ist.
ADZINE: Was wäre die Alternative?
Curkovic: Was wir benötigen, sind Standards und Messung, aber aus einer Advertiser- und Kampagnenperspektive, nicht aus einer DIN-Norm-Perspektive. In Deutschland neigen wir dazu, alles zu normieren, ein TÜV-Siegel draufzusetzen. Aus meiner Sicht brauchen wir etwas, das für Kampagnen funktioniert und Wirkung erzielt – und das kann je nach Konglomerat unterschiedlich sein. Vielleicht suchen wir ein Nonplusultra, das es gar nicht gibt.
ADZINE: Sollte eine technische Messung nicht standardisiert sein?
Curkovic: Die Messung beziehungsweise das Verständnis der KPIs und Konventionen sollte nachvollziehbar sein, jedoch mit Optionen zur detaillierten Anpassung. Nehmen wir zum Beispiel die Frage, was als Kontakt gilt. Hier könnte man Gremien oder Agenturen hinzuziehen oder die AGF-Definition übernehmen. Aber wir haben uns entschieden, Einstellungsmöglichkeiten anzubieten: mindestens eine Sekunde, fünf Sekunden, zu 100 Prozent gesehen oder p-Wert. Wir haben uns für diese Herangehensweise entscheiden, weil es verschiedene Use Cases gibt. Wie technisch gemessen wird, muss standardisiert sein, aber die Logik dahinter sollte anpassbar sein. Wir kommen schnell in eine Welt, in der wir einen nicht-skippbaren linearen TV-Kontakt mit einem skippable Mobile-Format vergleichen. Wenn wir beide in eine Welt zwingen, gibt es immer einen Verlierer. Wir müssen stattdessen einen Kompromiss finden, der darin besteht, dass sich ein Kontakt in dem einen Kanal anders definiert als ein Kontakt in einem anderen Kanal. Das ist entscheidend.
ADZINE: Aber wie steht es dann um die Vergleichbarkeit?
Curkovic: Ein Reporting auszuweisen und damit eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen, ist hilfreich. Aber eine Kampagne für einen Kunden maßzuschneidern, um ein bestmögliches Ergebnis zu erreichen, ist etwas anderes. Wir müssen hier trennen: Was muss vergleichbar sein, und was bringt dem Kunden das beste Ergebnis? Wenn ein Kunde eine kontaktorientierte Performance-Kampagne fährt und nur einen Uplift sehen möchte, ist ihm Vergleichbarkeit egal, solange er das Improvement messen kann. Wir müssen die Herausforderungen der Werbetreibenden lösen, maßgeschneidert. Wer einen Durchschnitt zwischen zwei Extremen macht, bedient keinen von beiden. Standardisierung ist einerseits nötig, dafür gibt es Instanzen wie die AGF. Aber junge Unternehmen, die heute Millionen im linearen TV und das Doppelte auf Youtube ausgeben, stellen andererseits die Frage nach Standards gar nicht – sie wollen wissen, wo sie ihr Media-Budget investieren können, um ihren Marktanteil zu steigern. Das ist eine andere Fragestellung, die mit Daten, KI und Systemen beantwortet wird, nicht mit ‚Was ist der Standard?‘.
ADZINE: Können wir hier von anderen Märkten lernen?
Curkovic: In den USA ist das Pendel sehr stark in Richtung Fragmentierung ausgeschlagen. Dort hat man als Advertiser gefühlt mit jedem Walled Garden oder Vermarkter ein ganz anderes Setup. Aber wie diese Fragmentierung gelöst wird, sehe ich als globale Chance: Die starke Einbeziehung von Big Data – insbesondere Rückkanaldaten von Geräten und Haushalten – ist dort gewinnbringend, weil sie Korrelationen zum Effekt zeigt, beispielsweise zu Vertragsabschlüssen oder Verkäufen. Voraussetzung ist immer ein großer Datensatz und eine große Fallzahl. Dann können Modelle besser darauf lernen und sich optimieren. Selbst wenn die Datengrundlage nicht perfekt ist – wenn sie groß ist, kann die Maschine trotzdem daraus lernen.
ADZINE: Hierzulande ist die Vermarktungslandschaft weniger stark fragmentiert. Wie könnte der deutsche Weg aussehen?
Curkovic: Wir sind in gewisser Weise schon auf dem Weg. Und die Vorzüge von Rückkanaldaten und hohen Fallzahlen werden hilfreich sein. Dabei ist das Thema Wirkung entscheidend. In Zeiten von knappen Budgets und einem Shift von Branding zu Performance müssen wir den Wirkungsaspekt stärker einbringen – nicht eine Währung ankündigen, sondern einen maßgeschneiderten Wirksamkeits-KPI, der das unternehmerische Ziel des Werbetreibenden berücksichtigt.
ADZINE: Wie kann diese Wirkung erzielt werden?
Curkovic: Es geht um die Kombination: Ein Panel hilft bei der groben Allokation zwischen Medien und soziodemografischen Segmenten, aber die Auflösung ist gering. Bei 10.000 Haushalten zieht man irgendwann keine Insights mehr. In einer fragmentierten Welt – mit linearem TV, CTV, TV-Apps, Mediatheken – brauchen wir Granularität. Ein breitmaschiges Panel misst nur die großen Cluster, die kleinen Angebote fallen weg. Rückkanaldaten liefern die nötige hohe Auflösung. Deswegen ist es sinnvoll, ein Panel – das harte Fakten wie Alter oder Geschlecht liefert – mit granularen Rückkanaldaten in hoher Auflösung zu kombinieren. Das Schlüsselwort ist dabei die Inkrementalität. Untersucht man, wie inkrementell Inventare zueinander sind, gibt es immer wieder Überraschungen – wenig Reichweite, aber hohe Inkrementalität, oder umgekehrt.
ADZINE: Wie lässt sich die Inkrementalität akkurat ermitteln?
Curkovic: Große Fallzahlen sind der Schlüssel. Wir greifen zum Beispiel auf Daten von einer Million Vodafone-Haushalte zurück und können nachvollziehen, was sie linear und non-linear konsumieren. Unsere Messung füttert eine KI-basierte Planung, die wir jahrelang trainiert haben, um Reichweiten zu maximieren. Die KI hat uns gezeigt, dass Inkrementalität der entscheidende Faktor ist. Bei jedem Inventar prüfen wir: Wie inkrementell ist A versus B? Beispielsweise können wir Gaps in der TV-Reichweite auf Postleitzahl-Ebene erkennen und entsprechend mit zielgerichteten digitalen Ausspielungen schließen. Darüber hinaus ist es möglich, Segmente über Data-Clean-Rooms abzugleichen. Damit werden nicht nur Überschneidungen deutlich. Es lassen sich auch Rückschlüsse zur Zielgruppe ziehen und neue Ansprache-Möglichkeiten finden. Früher ging es um Reichweite und Affinität, heute um Inkrementalität zum Gesamten. Das ist unser Ansatz – und das lässt sich nicht mit einem Panel bewerkstelligen.
ADZINE: Was ist aus deiner Sicht die wichtigste Herausforderung für die Zukunft, um mit TV- und Videokampagnen erfolgreich zu sein?
Curkovic: Vor allem müssen wir uns von gelernten Bauchgefühlen und alten KPIs verabschieden. Insbesondere der GRP ist für Bewegtbild ein falscher KPI, weil er einen systemischen Fehler in sich trägt.
ADZINE: … der wäre?
Curkovic: Der GRP berücksichtigt Reichweite und Frequenz, ohne sie zu trennen. Das ist ein Problem. Noch immer sieht man die Reichweite als größte Herausforderung. Aber stattdessen müssen wir uns als erstes einer Wirkungsherausforderung stellen. Das ist die Hierarchie. Wirkung muss ganz oben stehen, der Schlüssel dazu ist die Reichweite und die erhalten wir durch Inkrementalität. Alt gelernte Standards wie der GRP haben funktioniert, als Advertiser ihr Geld auf drei Fernsehsender verteilt haben. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die Vielfalt ist gewaltig und dafür braucht es neue, individuelle Lösungen und eine große Datenbasis.
ADZINE: Ihr könnt bereits auf einen großen Datensatz zurückgreifen. Gibt es eurerseits Bestrebungen, eure Datenbasis noch weiter zu vergrößern?
Curkovic: Es ist kein Geheimnis, dass wir bei den Werbedaten bereits mit Dazn zusammenarbeiten. Wir sprechen auch mit anderen Streamingplattformen und mit vielen Betreibern von TV-Betriebssystemen und Software-Lösungen. Die Zukunft liegt aus unserer Sicht nicht in einer konvergenten Währung, sondern in einer wertvollen Basis an Rückkanaldaten, die durch Streaming-Daten, Benutzeroberflächendaten und Gerätedaten angereichert sind.
ADZINE: Vielen Dank für das Interview, Marin!
Tech Finder Unternehmen im Artikel
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