Datenschutz wird zum Umsatz- und Innovationsfaktor
Karsten Zunke, 1. April 2025
Datenschutz war, ist und bleibt ein wichtiges Thema in der EU, insbesondere in der Online-Werbung. Doch mittlerweile ist es weit mehr als ein rein gesellschaftspolitisches Thema. Datenschutz wird zu einem Umsatz- und zu einem Innovationsfaktor. Warum das so ist, mit welchen zwei Welten es Publisher und Advertiser jetzt zu tun haben und welche Rolle KI künftig dabei spielen wird – darüber haben wir mit Stephan Jäckel, Geschäftsführer von Emetriq, gesprochen.

ADZINE: Die Verbraucher hierzulande werden immer sensibler und aufgeklärter, wenn es um Datenschutz geht. Wird Datenschutz zum Umsatzfaktor?
Stephan Jäckel: Ja – das ist die kurze Antwort. Aber dahinter steckt eine Menge Komplexität, über die man lange sprechen könnte. Es fängt schon bei der Prämisse an, die man philosophisch diskutieren könnte.
ADZINE: Könntest du das bitte näher erläutern?
Jäckel: Einerseits werden die Nutzer im Internet tatsächlich immer aufgeklärter. Andererseits sehen wir aber auch eine starke Ungleichheit, je nachdem, in welchem Kontext sie sich online bewegen. Nehmen wir zum Beispiel Tiktok: Viele Tiktok-Nutzer wissen nicht, warum die Inhalte, die ihnen angezeigt werden, so perfekt zu ihnen passen. Nämlich nur, weil ihr Verhalten bis ins Kleinste analysiert wird.
ADZINE: Aber die Nutzer scheinen das zu akzeptieren, oder?
Jäckel: Viele akzeptieren es und haben kein Problem damit, weil der Deal für sie stimmt: Sie bekommen maßgeschneiderten, interessanten Content. Im Gegenzug werden alle ihre Aktionen – wie lange sie ein Video anschauen, welche Videos sie liken – extrem genau durchleuchtet. Das wird akzeptiert. Gleichzeitig sehen wir im Open Web, etwa auf Nachrichtenseiten, eine ganz andere Entwicklung: Dort werden die Nutzer immer kritischer, achten auf Consent-Banner. Das zeigt eine große Ambivalenz im Verhalten der User.
ADZINE: Was bedeutet das für Publisher?
Jäckel: Ich glaube, Firmen müssen diese Ambivalenz berücksichtigen und sich damit auseinandersetzen. Aus der Perspektive von Publishern ist es bemerkenswert, wie freizügig Nutzer auf Plattformen wie Tiktok mit ihren Daten sind, weil sie einen Mehrwert bekommen. Gleichzeitig gibt es diese kritischere Haltung im Open Web. Für Werbetreibende ist es ebenfalls ein Thema, weil sie in beiden Welten spielen müssen – das ist eine Herausforderung. Kurz gesagt: Datenschutz wird zum Umsatzfaktor, weil Publisher und Werbetreibende mit dieser mehrdeutigen Realität arbeiten müssen.
ADZINE: Warum gibt es diese Diskrepanz? Liegt es an den Zielgruppen oder an den Mehrwerten?
Jäckel: Es liegt am Kontext. Die großen Plattformen sind wie ein Raum, in den man eintritt und damit automatisch einen Deal akzeptiert. Daten gegen Mehrwerte. Einmal eingetreten, sind die Formalitäten erledigt. Man wird nicht bei jedem Wischen oder Klick daran erinnert, dass dieses Verhalten von zahlreichen Firmen analysiert wird, um Werbung auszuspielen. Im Open Web hingegen sind Nutzer ständig mit Consent-Fragen konfrontiert und müssen sich damit auseinandersetzen. Das ist ein völlig anderes Erlebnis.
ADZINE: Bleiben wir beim Open Web. Wie sollte – auch vor dem Hintergrund dieses ambivalenten Nutzerverhaltens – ein effektives Consent-Management aussehen?
Jäckel: Hier gibt es unterschiedliche Perspektiven. Aus Nutzersicht sollte es aufgeklärt, transparent und nachvollziehbar sein. Ich muss wissen, wozu ich zustimme, und ich muss es später noch einmal einsehen können. Technisch sollte es so gestaltet sein, dass ich nicht ständig neu gefragt werde – das Problem mit Cookies war ja, dass aufgeklärte Nutzer sie gelöscht haben und dann immer wieder Consent-Dialoge bekamen.
Aus Sicht der Advertiser muss der Consent sinnvoll gespeichert werden, transparent sein und er darf die User nicht ständig mit neuen Abfragen nerven. Gesellschaftspolitisch sollte der Consent nicht vom Browser gemanagt werden, denn die Hoheit über die Kunden-Beziehungen sollte – beispielsweise so wie bei Utiq – bei den Publishern liegen und nicht beim Browser-Anbieter. Idealerweise wird Consent für das Open Web von einem solchen, herstellerunabhängigen Anbieter gestaltet und betrieben.
ADZINE: Der Consent ist das Eine, aber wie generiere ich als Publisher aus diesem Consent auch Einnahmen? Und zwar möglichst hohe Einnahmen?
Jäckel: Das ist komplex. Werbetreibende müssen sich auf zwei Gruppen einstellen: Nutzer, zu denen sie Profil-Daten haben, und solche, zu denen sie keine haben. Die Trennlinie verläuft ziemlich genau entlang der Frage: Habe ich einen Consent und die technischen Möglichkeiten, ein Profil für diesen User anzulegen, um Informationen zu nutzen und meine Werbung zielgerichteter zu machen? Oder muss ich eine Approximation treffen?
Wer ein Profil anlegen kann, sollte das tun. Wo das technisch nicht möglich ist – zum Beispiel, weil Browser verhindern, dass eine Profilhistorie angelegt wird, oder weil ich keine ID sammeln kann, wie etwa auf iOS, oder weil der User keinen Consent gegeben hat –, muss man approximieren. In dieser Welt der Approximation werden wir sehen, dass sich neben kontextbasiertem Advertising auch das Thema Third-Party-Data weiterentwickeln wird und man in der Lage sein wird, zum Beispiel über synthetische Daten auch kohortenbasiert Daten anzubieten, welche die Personalisierung verbessern. Das wird vermutlich nicht die Performance eines echten Profils erreichen, aber es wird die bestehenden Möglichkeiten definitiv verbessern.
ADZINE: Aber wenn ich ein Profil anlegen kann, aber das Profil nur zwei Events enthält – hilft das wirklich weiter? Oder sollte man dann lieber eine Approximation starten und versuchen, den User in eine Kohorte einzusortieren?
Jäckel: Das ist individuell zu entscheiden. Als Advertiser muss man schauen, wie wichtig das ist und welche Signale über den User vorliegen. Natürlich ist eine harte Information – etwas, das der User getan oder gesucht hat – immer besser als eine Approximation. Aber es hängt auch vom Kampagnenziel ab. Werbetreibende müssen immer zwischen Zielgenauigkeit und Reichweite abwägen. Oftmals wird bemängelt, dass man eine sehr spitze Audience bauen kann, aber das Volumen für die Kampagne dann nicht reicht.
Ich glaube, was Werbetreibende heute schon tun, aber in Zukunft bewusster machen werden, ist, die Potenziale von Zielgruppen, zu denen sie genaue Informationen haben, besser zu nutzen, um maximale Effizienz rauszuholen. Gleichzeitig sollte man diese Zielgruppen nehmen und daraus Approximationen oder synthetische Daten ableiten, um die Kampagne skalieren zu können – in dem Maße, wie man es braucht. Das werden die Potenziale der Zukunft sein, denn die Gruppe der genau adressierbaren User schrumpft, aber das Marketing bleibt darauf angewiesen, eine große Gruppe zu erreichen.
ADZINE: … das heißt, selbst für ein kontextuelles Targeting sind User-Daten wichtig?
Jäckel: Auf jeden Fall. Doch wir müssen hier zwischen kontextuellem und semantischem Targeting unterscheiden. Was landläufig als kontextuelles Targeting bezeichnet wird, ist oft semantisches Targeting. Zum Beispiel wäre ein Artikel auf einer Nachrichtenseite mit dem Titel „Nations League: Deutschland gewinnt gegen Italien“ – ein Sport-Thema. Das semantische Targeting erkennt „Fußball“ und „Sport“. Interessanter wird es, wenn Signale über das Semantische hinausgehen: Liest jemand diesen Artikel mit einem iPhone oder einem Android-Gerät? Gibt es Unterschiede? Sind Android-Nutzer, die Sportartikel lesen, eher aktive Sportler, während iOS-Nutzer den Sport eher passiv als Entertainment konsumieren? Das lässt sich nur lernen, wenn man über Daten verfügt – über einen Grundstock, aus dem sich Erkenntnisse ableiten lassen.
Unter kontextuellem Targeting verstehe ich ein multidimensionales Targeting, das solche Unterschiede berücksichtigt: iPhone- oder Android-Nutzer, aktive oder passive Sportler. Ein passiver Sportkonsument könnte beispielsweise von Adidas ein Deutschlandtrikot wollen – nicht, weil er selbst spielt, sondern als Fan. Ein aktiver Android-Nutzer könnte hingegen Fußballschuhe benötigen, weil er samstags auf dem Platz steht. Das sind unterschiedliche Zielgruppen, und wir als Werbeindustrie müssen dafür sorgen, dass solche Aspekte adressierbar werden.
ADZINE: Spielt KI dabei eine Rolle?
Jäckel: Absolut! Die Realität ist deutlich komplexer als dieses simple Beispiel. Die Kombinatorik aus kontextuellen Signalen und Webseiten-Nutzung ergibt erst das Bild. Mit Künstlicher Intelligenz und Machine Learning können wir solche Muster heute viel besser erkennen und präzise Vorhersagen treffen. Themen greifbarer zu machen, mehr dieser Signale zu nutzen und sie genauer abzuleiten, ist etwas, woran wir seit vielen Jahren intensiv arbeiten.
ADZINE: KI kann sehr gut mit Daten umgehen. Kann KI auch den Datenschutz verbessern?
Jäckel: Ja, davon bin ich überzeugt. Früher waren sehr viele Events nötig, um ein Nutzerbild zu erstellen. Mit KI können wir mit weniger Daten genauere Schlüsse ziehen – ähnlich wie Wahlprognosen mit kleinen Stichproben. Das reduziert den Datenbedarf und schützt mehr Nutzer. Gefragt sind Techniken, die mit weniger Daten auskommen und trotzdem Mehrwert bieten. In Europa, wo es keinen Konsens für massenhafte Datensammlung gibt, wird Datenschutz damit auch zu einem Innovationsfaktor.
ADZINE: Vielen Dank für das Gespräch, Stephan!
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