Wie man eine tickende Bombe vor aller Augen versteckt
Christian Bachem, 4. Februar 2025Das Jahr begann mit einem Paukenschlag. Mark Zuckerberg hatte angekündigt, Fact Checking auf den eigenen Plattformen einzustellen. Stattdessen werde Meta die Faktenprüfung in die Hände der Nutzer legen. Und zwar in Form von Community Notes. Vorbild hierfür ist X (vormals Twitter), wo Community Notes bereits etabliert sind. Ausgerechnet X. Die Plattform, die seit der Übernahme durch Elon Musk zum Hort für Missgunst, Hassrede und Hetze geworden ist? Die Plattform, der die Anzeigenkunden in Scharen davongelaufen sind – begleitet von einem öffentlich geäußerten „Go fuck yourself“ von Musk? Der nun einige dieser Werbungtreibenden verklagt.
Steht also zu erwarten, dass sich Facebook, Instagram und Threads ebenfalls zur unkontrollierten Schlangengrube entwickeln, die für Marken zum Reputationsrisiko wird? Die Reaktionen hierzulande legten dies nahe. Schnell ergingen zahlreiche Appelle an die hiesigen Werbungtreibenden und Mediaagenturen, ein Zeichen zu setzen und ihre Spendings zu prüfen, zu reduzieren oder gar einzustellen.
Diese reflexartigen Forderungen überraschen nicht, schallten sie doch bereits in der Vergangenheit durch die Fachwelt. Und verhallten alsbald wieder. Doch verwunderlich ist die Aufregung um Metas Kurswechsel durchaus.
Und zwar aus drei Gründen:
1. Die Änderungen greifen (zunächst) nur in den USA.
Dort werden sie schleichend ausgerollt. Und nach einem Jahr intern überprüft. Ob und in welcher Form Meta sie in Europa einführen wird, ist offen. Der Digital Services Act der EU könnte den Giganten aus Menlo Park davon abhalten. Denn der DSA verpflichtet alle großen Plattformen unter Androhung empfindlich hoher Strafen, einen verlässlichen und transparenten Prozess der Content Moderation einzuhalten. Ob Community Notes den Anforderungen des DSA genügen, ist zweifelhaft. Die EU-Kommission hat ein Verfahren gegen X eingeleitet, das genau dies prüfen soll.
2. Metas Eingriffe waren immer nur homöopathisch
Zur besseren Einordnung der Bedeutung des Fact Checking bei Meta hilft es, sich einige Zahlen der größten Plattform vor Augen zu führen. Mehr als 2,1 Milliarden Menschen nutzen Facebook täglich. Im Laufe eines Jahres werden dort rund 2 Billionen Posts veröffentlicht, sprich 500 Milliarden pro Quartal. Eigenen Angaben zufolge hat Meta im dritten Quartal 2024 6,4 Millionen Posts wegen Hassrede und 7,6 Millionen Posts aufgrund von Mobbing und Beleidigungen gelöscht. Dies entspricht weniger als 0,003 Prozent aller Posts in diesem Zeitraum.
3. Meta bekommt Fake Accounts und Bots nicht in den Griff
In seinem „Community Standards Enforcement Report“, aus dem auch die zuvor genannten Angaben stammen, gibt Meta an, dass es gelungen sei, das Erstellen von Millionen von Fake Accounts zu verhindern – wohlgemerkt täglich. Dennoch musste Facebook 1,1 Milliarden Fake Accounts in Q3/24 löschen, da diese alle Präventiv-Maßnahmen umgehen konnten. Die Dunkelziffer unerkannter Fake Accounts und Bots kann man angesichts dessen nur erahnen. Experten gehen davon aus, dass mindestens 2 Prozent aller Posts auf Facebook von Bots stammen.
Der angemessene Umgang mit menschenverachtenden und rechtswidrigen Inhalten ist und bleibt eine wichtige Aufgabe für Social Media. Die Diskussion hierüber sollte jedoch nicht von einem ebenso drängenden Thema ablenken: Fake Accounts und Bots. Sie bilden eine perfide Zeit-Bombe. Eine, die – befeuert durch KI – mit der Zeit immer explosiver werden dürfte. Und die beileibe nicht nur Meta betrifft. Linkedin hat eigenen Angaben zufolge von Januar bis Juni 2024 170 Millionen Accounts gelöscht.
Es wird Zeit, dass Werbungtreibende und Agenturen sich des Ausmaßes von Bots auf Social Media und im Open Web sowie auf weiteren digitalen Plattformen und Kanälen bewusst werden.
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