Warum Programmatic für Retail Media unverzichtbar ist
Karsten Zunke, 24. Februar 2025
Retail Media ist ein prosperierendes Business und zieht immer mehr Marktakteure an. Für die meisten Beteiligten ist dies noch immer weitgehend Neuland: Retailer müssen das Media-Business erlernen und Media-Experten sich auf die Eigenheiten des Einzelhandels einstellen. Doch es gibt vielversprechende Entwicklungen in die richtige Richtung. Womit der Werbemarkt noch zu kämpfen hat und warum Programmatic hier noch in den Kinderschuhen steckt, darüber haben wir mit Jens Bargmann, VP Retail Media bei Adform, gesprochen.

ADZINE: Jens, wie gut sind Retailer und Advertiser für das Retail-Media-Business gerüstet?
Jens Bargmann: Die Voraussetzungen sind höchst unterschiedlich. Zum einen gibt es etablierte Player wie Amazon, Otto oder Zalando, die Retail Media seit vielen Jahren einsetzen. Sie haben große Teams, viel Know-how und einen passenden Tech-Stack aufgebaut. Zum anderen gibt es sehr viele Retailer, die jetzt erst anfangen, das Thema ernsthaft anzupacken. Die Spanne ist breit. Der Markt ist zum großen Teil noch Wilder Westen.
ADZINE: Advertiser sind aber eher Gewohnheitstiere …
Jens: In der Tat. Für die Advertiser-Seite ist es eine große Herausforderung, wie das Retail-Media-Geschäft in die traditionellen Strukturen passt. Sind es beispielsweise Trade- oder Media-Budgets? Nicht nur, dass die Budgets in verschiedenen Silos liegen, es gibt auch unterschiedliche Verantwortlichkeiten und Teams, die nicht miteinander reden. Da Retail Media für Werbetreibende eine neue Disziplin ist, haben viele Advertiser ihre Struktur noch nicht optimal angepasst und manche Dinge werden einfach nicht gut koordiniert. Aber man ist auf einem guten Weg. Die meisten Akteure sondieren aktuell, wie man das Thema in der jeweiligen Organisation optimal verankern kann. Best Practices gibt es kaum, daher wird vieles einfach ausprobiert.
ADZINE: Die Struktur ist das eine, aber wie steht es um die technische Anbindung?
Jens: Hier sind insbesondere die Retailer gefragt. Sie müssen sich überlegen, ob sie den nötigen Tech-Stack in Eigenregie aufbauen, was mehrere Jahre dauern kann, oder ob sie eine bereits existierende Lösung einsetzen und sie auf ihre Bedürfnisse anpassen. Doch die Anpassungen können knifflig sein. Wer zum Beispiel den Großteil seines Geschäfts in stationären Läden generiert, benötigt andere technische Lösungen als reine Online-Retailer. Als Königsweg hat es sich daher erwiesen, sich Technologie-Partner zu suchen, mit denen man den Weg der individuellen Anpassungen gemeinsam beschreitet. Der Markt ist noch nicht etabliert genug, um mit Standard-Lösungen arbeiten zu können.
ADZINE: Retailer verfügen über wertvolle First-Party-Daten. Werden diese schon ausreichend aktiviert?
Jens: Das dominante Werbeprodukt im Retail Media sind die Sponsored Product Ads. Und diese Ads sind in erster Linie ein kontextuelles Thema. Sie werden in Katalogen und Suchergebnissen platziert. Hinzukommt, dass Retail Media noch nicht sehr stark ‚durchprogrammatisiert‘ ist, wie man es aus anderen Media-Kanälen kennt. Es gibt für die verschiedenen Einsatzzwecke noch zu viele Einzellösungen und die Anbieter hinter diesen Lösungen haben sehr unterschiedliche Hintergründe. Nicht jeder kommt wie wir aus der Programmatic-Welt. Insofern gibt es bei den First-Party-Daten noch einige Potenziale zu heben.
ADZINE: Retailer setzen also stark auf On-Site-Werbung, auf die Anzeigen direkt im Shop. Eine ganzheitliche Strategie, die On-Site und Off-Site-Kanäle verknüpft, wäre doch sicherlich sinnvoller?
Jens: Ja, das wäre durchaus sinnvoll. Idealerweise würde man die komplette Customer Journey abbilden – vom ersten Werbemittelkontakt bis zur Conversion auf Seite des Retailers. Aber da das Ökosystem für Retail Media noch nicht durchgehend programmatisch aufgestellt ist, ist es schwierig, die komplette Customer Journey abzubilden. Oft gehen Retailer daher den naheliegendsten Weg und beschränken sich auf Anzeigen auf ihrer Seite.
ADZINE: Warum ist das so? Wurden die Vorteile von Programmatic noch nicht klar genug kommuniziert?
Jens: Man muss berücksichtigen, dass sich Retailer um viel mehr Dinge kümmern müssen als die Publisher im klassischen Sinne. Einem Retailer ist die User Experience sehr viel wichtiger als einem Publisher. Er ist nicht daran interessiert möglichst viel Werbung einzublenden, sondern möchte, dass die Produkte gekauft werden. Man ist sehr bedacht, keine Nutzer zu verschrecken oder mit Werbung zu überfordern. Retailer müssen stets diesen Trade-Off zwischen Ad-Revenues und Retail-Revenues im Blick behalten. Sie müssen abwägen und sehr viele Dinge in einem höheren Intensitätsgrad bedenken als ein klassischer Publisher. Keinesfalls möchte man einerseits Verkaufsumsätze verlieren, weil man andererseits Umsätze mit Werbung generiert. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die User Experience den Retailern extrem wichtig ist. Sie steht über allen anderen Faktoren der möglichen Vermarktung. Hinzukommt, dass Retailer die Komplexität dieses, für sie neuen Media-Geschäftes, oft unterschätzen.
ADZINE: … das heißt?
Jens: Retailer müssen sich bewusst sein, dass sie ein neues Geschäft anfangen, das völlig anders ist als ihr bisheriges Business. Einzelhändler können typischerweise gegenüber Konsumenten sehr gut für ihre Produkte werben, sie sind sehr gut im Wareneinkauf und der Customer Experience, sie wissen, wie man Konsumenten zufriedenstellt. Aber sie haben typischerweise keine Erfahrung, etwas an Geschäftskunden zu verkaufen und sie kennen das Media-Ökosystem in der Regel nicht, beispielsweise die Rolle und Funktion der Agenturen oder die Ziele der Advertiser. Das komplexe Zusammenspiel der verschiedenen Player im Media-Ökosystem wird von Retailern häufig unterschätzt.
ADZINE: Und umgekehrt, versteht Media die Retail-Welt?
Jens: Im Media-Geschäft muss man ebenfalls umdenken. Die Media-Seite muss vor allem verstehen, dass der Ad-Revenue nicht das Hauptziel der Retailer ist. Es ist keine Seltenheit, dass ein Retailer bestimmte Brands nicht auf seiner Seite haben möchte oder auf einem möglichen Werbeplatz lieber sein eigenes Loyalty-Programm bewirbt, anstatt ihn zu vermarkten. Beide Seiten müssen ihr Gegenüber verstehen lernen.
ADZINE: Das klingt, als wäre ein programmatisches Retail-Media-Ökosystem noch in weiter Ferne.
Jens: Wir sind so auf dem richtigen Weg und es gibt durchaus programmatische Ansätze, insbesondere Offsite. So wird Offsite-Display in der Regel programmatisch eingekauft und programmatisch verwaltet. Auch Onsite-Display lässt sich prinzipiell leicht programmatisch managen. Einige Formate wie die Sponsored Product Ads sind dafür grundsätzlich auch sehr geeignet, werden in der Praxis aber häufig noch nicht unter Verwendung von First-Party-Daten ausgespielt, obwohl technische Lösungen bereits möglich ist. Einen echten Mehrwert kann man nur erzielen, wenn man alles miteinander verbindet. Und das ist nur programmatisch möglich.
Aus Advertiser-Sicht müssen sich die Retailer an den Standards messen lassen, die es im klassischen Media-Geschäft gibt. Und das sind typischerweise die programmatischen Logiken mit ihren granularen Auswertungen. Speziell im Upper-Funnel wird von den Advertisern das gleiche Niveau in Bezug auf Transparenz und Auswertungsqualität erwartet. An Programmatic führt kein Weg vorbei.
ADZINE: Was muss geschehen, damit sich Retail Media in Richtung echter Programmatik-Exzellenz entwickelt?
Jens: Retailer müssen sich zunächst über ihre mittelfristige Strategie klar werden und definieren, welche technologischen Fähigkeiten sie in drei bis fünf Jahren für ihr Media-Business erlangen möchten. Eine Retail-Media-Technologie einzukaufen und zu implementieren, ist ein größeres Projekt. Daher ist es nötig, über die kurzfristigen Herausforderungen hinauszusehen und eine Vision zu formulieren. Was soll in drei bis fünf Jahren umsetzbar sein? Auf dieser Basis müssen sich Retailer entscheiden, dieses Projekt im Alleingang zu stemmen oder sich einen Partner zu wählen, der in der Lage ist, auch individuelle Anforderungen umzusetzen.
Parallel stehen Retailer vor der Herausforderung, den Media-Verkauf auch organisatorisch abzubilden, beispielsweise indem sie Sales-Teams bilden. Viele Anbieter würden auch gern mit Agenturen zusammenarbeiten, aber hier hapert es noch. Oft fehlen die Kontakte, man spricht nicht dieselbe Sprache oder die Retailer haben schlicht kein Angebot, das für Agenturen gut funktioniert. Daher sind Einzelhändler gut beraten, sich auch über die Integration von Agenturen frühzeitig Gedanken zu machen. Je wichtiger Media als Thema und Umsatzbringer für Retailer wird, desto mehr werden Agenturen eine Rolle für den Erfolg spielen.
ADZINE: Vielen Dank für das Gespräch, Jens!
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