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Stück für Stück erschließen Adtech-Unternehmen die klassischen, linearen Medien für den programmatischen Mediahandel. Nach der Außenwerbung und dem Fernsehen steht neben den Printerzeugnissen vor allem das Radio im Fokus der Werbeindustrie. In den vergangenen Jahren konnten diverse Cases zeigen, wie viel Potenzial in der Gattung steckt, doch so richtig Fahrt aufnehmen, wollte die "Programmatisierung" des linearen Radios nicht. Im Interview erklären Nico Aprile, Gründer und CEO des Hamburger Audiospezialisten Amy, und Andreas Schilling, Partner und CEO der Amy-Tochter Audioscale, woran dies liegt und wie es sich ändern lässt. Gemeinsam sprechen sie über die Strukturen des deutschen Radiomarkts, den Status quo des hiesigen Programmatic-Angebots, die nötigen Schritte zur Standardisierung und die Targeting-Möglichkeiten für Audiokampagnen.
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ADZINE: Nico, magst du Amy in so wenig Worten wie möglich erklären? Was steckt hinter dem Unternehmen?
Nico Aprile: Amy ist eine Plattform, die entstanden ist, um das Radio- und Online-Audio-Inventar automatisiert und programmatisch buchbar zu machen. Unser Ziel ist es also, dem Werbemarkt die Reichweite von Radio und Online-Audio automatisiert und elektronisch für eine ebenso automatisierte Buchung bereitzustellen.
ADZINE: Bezeichnet ihr euch als Supply-Side-Plattform?
Aprile: Ja, wir sind eine klassische SSP im erweiterten Sinne, da wir auch Möglichkeiten der Direktbuchung anbieten.
ADZINE: Warum habt ihr euch den Radiomarkt ausgesucht?
Aprile: Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst hat Radio es nötig. Es ist das letzte Medium unter den linearen Medien, das automatisiert wird. Erst kommt die Automatisierung, dann kommt das Programmatic.
Ein weiterer Grund ist, dass ich selbst seit Jahren mit Radio und der Werbewirtschaft zu tun habe, ob als Tech-Lieferant oder Berater. Mit dem Kampagnen-Management-System Amily decken wir im deutschsprachigen Raum bereits 75 Prozent des Markts im Privatradio ab. Somit kennen wir uns schon mit den Prozessen und Anforderungen bestens aus.
Außerdem hat Radio viel Reichweite. Als lineares Medium bietet es ein paar Vorteile wie Brand Safety und die Abwesenheit von Ad Fraud. Die Kombination mit anderen Bereichen wie Retail Media stellt Radio darüber hinaus mehr Geschäft in Aussicht. Davon können auch bescheidene Adtech-Anbieter profitieren.
ADZINE: Wie groß ist der Werbemarkt für Radio in Deutschland? Und verschafft die Digitalisierung dem Radio einen Auftrieb?
Aprile: Der Werbemarkt bewegt sich zwischen 800 und 900 Millionen Euro netto und ist damit in Europa der größte und der fünftgrößte Markt weltweit.
Radio verkauft sich weiterhin ganz klassisch, also in Form von I/O-Kampagnen, die im Rahmen von Commitments eingebettet werden. In der Quintessenz sinkt die Payrate – und somit das Netto-Werbegeld, das in der Kasse der Publisher landet – jedes Jahr und Radio erhält keine neuen Impulse, auch was die Werbewirtschaft betrifft. Denn die neuen Impulse kommen von Online-Audio – von Streaming, auch enttäuschend in der Entwicklung, oder von Podcasts, alles andere als enttäuschend in der Entwicklung, oder von Channels wie Spotify. Aber davon profitieren die Radiomacher nicht. Neue Angebote und der elektronische Zugriff für die Werbewirtschaft auf die Inventare von Radio und Online-Audio können da helfen.
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ADZINE: Andreas, mit Audioscale erklärt ihr, wie programmatische Audio-Werbung funktioniert. Wo besteht mehr Beratungsbedarf? Bei Publishern oder Advertisern? Amy ist ein Publisher-Tool, aber die Werbetreibenden müsst ihr wahrscheinlich auch angehen, oder?
Andreas Schilling: Ja klar, bei Audio ist die Bandbreite enorm groß, wie Nico schon angedeutet hat. Den größten Beratungsbedarf mache ich auf Publisher-Seite aus. Denn Agenturen müssen wir nicht erklären, was Programmatic ist und wie es funktioniert. Agenturen möchten perspektivisch den Kanal Radio/Audio nach programmatischen Standards buchen.
Wenn wir uns hingegen die Radiolandschaft und deren Protagonisten, die klassischen Radio-Publisher anschauen, bewegen sich diese in ihrem originären Kosmos. Sie beäugen sich im intramedialen Wettbewerb, definieren sich in der „Radio-Bubble“ vorrangig über regionale Größe und Relevanz und nicht wirklich über technologische Innovationen rund um das Thema Programmatic Audio. Und dies bei einem anhaltend geringen Marktanteil im Gattungsvergleich. An dieser Stelle setzen wir an. Wir bieten Orientierung im wachsenden, technologiegetriebenen Audio-Markt und unterstützen die Marktteilnehmer in der operativen Umsetzung von Programmatic Radio/Audio.
Das bedeutet aber insbesondere ein Umdenken bei den Publishern, weg von der klassischen, umfeldbasierten I/O-Vermarktung, hin zur kontaktbasierten Vermarktung entlang programmatischer Metriken.
Kurzum: Die Technologie steht bereit, funktioniert und wurde im Markt erfolgreich getestet. Es gilt nun die Publisher zu überzeugen, dass die Transformation zur programmatischen Wertschöpfung durch das Umlegen weniger Schalter reibungslos gelingt. Das alles unter Berücksichtigung bewährter und vertrauter Prozesse und Geschäftsmodelle, ohne jegliches Risiko. Doch leider ist die Transformationsbereitschaft auf Radioseite unterschiedlich stark ausgeprägt. Für mich eine Art Déjà-vu aus vergangenen Zeiten in der Print-Branche.
ADZINE: Woran liegt das?
Schilling: Programmatic wird einerseits als das erkannt, was es ist: die Zukunft. Andererseits schürt es Ängste mit Blick auf möglichen Kontrollverlust, Preishoheit usw. Dann müssen wir beispielsweise die Mechanismen rund um Preissetzung (Floor-Preis), Verfügbarkeiten, Nachfrage versus Angebot et cetera erklären und auf Chancen und Vorteile hinweisen, die Programmatic bietet.
ADZINE: Wie weit sind wir mit der „Programmatisierung“ der Radiosender in Deutschland?
Aprile: Zunächst ist der programmatische Ansatz für lineare Medien nur eine Adaption. Radioanbieter kennen natürlich nicht den einzelnen Radiohörer, der gerade zugeschaltet hat. Deswegen reden wir immer von einer Adaption des programmatischen Ansatzes auf ein lineares Medium. Das gilt auch für Out-of-Home oder TV.
Die Radio-Publisher nutzen unterschiedliche Technologien in verschiedenen Stadien. Wir sind jetzt aber so weit, dass wir nicht nur die Werbeplätze in Echtzeit verkaufen können, sondern auch die Spots in „near real time“, wie es richtig heißt, auf Sendung bringen. Wir reden also von einem komplett automatisierten Prozess, der nicht nur den Werbeplatz, sondern auch das Creative umfasst. In linearen Medien gab es immer eine Trennung zwischen den beiden Prozessen. Der Werbeplatz wurde verkauft und irgendwann wurde das Creative manuell dazu gesteuert. Wir vereinen diese Prozesse technologisch, womit Amy eine Dolmetscher-Arbeit leistet. Amy spricht sowohl die Sprache der Digitalen als auch die der Linearen.
ADZINE: Wie schreitet die Standardisierung voran, damit sich Programmatic Radio voll entfalten kann?
Aprile: Wir arbeiten daran. Es wird nicht – und es muss auch nicht – so weit kommen, dass alle Publisher Deutschlands die gleiche Software nutzen. Deswegen muss die Standardisierung auf der Ebene von Schnittstellen und Prozessen stattfinden. Daher bin ich froh, dass es viele Sender gibt, die in der Lage sind, Inventare automatisch anzubieten und Werbung automatisch auszuspielen. Das ist ein Meilenstein.
Es gibt für Radio aber meines Erachtens noch viel zu tun: Es muss weiter investiert werden. In die Technologie, in die Werbeformen und schließlich in das Programm. Denn sonst würde Radio in dem aktuellen Run auf die Audio-Kanäle untergehen.
Im Hinblick auf die Konvergenz Radio/OA ist auch eine neue, einheitliche Währung unverzichtbar. Wir stützen uns auf die MA-Daten in Deutschland. Sobald wir aber in die Konvergenz gehen, Online-Audio und Radio, ist eine neue Metrik vonnöten, da Zielgruppen unterschiedlich ausgeprägt sind. Diese Standardisierung muss auf der Angebotsseite stattfinden und gleichzeitig vom Markt akzeptiert werden. Auch dies ist Teil unserer Arbeit.
ADZINE: Welche Targeting-Daten existieren darüber hinaus, um im linearen Radio personalisiert programmatisch zu werben?
Aprile: Auf unserer DMP bedienen wir alle Kriterien der MA-Daten. Dies sind soziodemografische Merkmale, nicht nur das Alter, sondern auch das Einkommen und so weiter. Darüber hinaus existiert über die Sendemasten die ganze Geotargeting-Klaviatur. Das heißt, wir können genau sagen, in welchem Postleitzahlengebiet welche Radioprogramme zu empfangen sind.
Vor allem in der Regionalität liegt jede Menge unverkauftes Inventar von Radiosendern. Dabei wollen Agenturen und Werbekunden durchaus regionale Kampagnen feingliedrig und situativ aussteuern. Für Publisher und die Werbewirtschaft rundet Wetter-Targeting oder situatives Buchen auf Basis von regional stattfindenden Events das Targeting-Angebot weiter ab.
Interessanter ist aus unserer Sicht das Programmumfeld. Das kennen wir schon aus dem TV, aber es gibt immer noch Radiosender, die behaupten, sie hätten kein Programmumfeld. Dabei ist genau das spannend für die Werbewirtschaft. Es gibt Sendungen über Gesundheit oder Sendungen über Urlaub. Das ist für Pharma-Konzerne oder Reiseanbieter durchaus relevant. Und die Vorteile von Radio in puncto Brand Safety kommen hier ebenfalls zur Geltung. Diese Informationen bilden wir ebenfalls ab.
Zu den Möglichkeiten des Targetings gehört meines Erachtens auch eine automatisierte Aussteuerung der Creatives auf Basis des Audio-Programmumfeldes und des allgemein situativen Umfeldes, wie Stimmung, Wetter et cetera. Dazu benötigt man unterschiedliche Creatives mit entsprechenden Attributen und ein gutes Audio-Workflow-Management. Auch dies stellt unsere Plattform Amy bereit. Die Werbewirtschaft zeigt großes Interesse, jetzt müssen nur noch die Publisher diese Gelegenheit ergreifen. Von dieser digitalen Transformation können alle profitieren...
ADZINE: Danke für das Gespräch, Nico und Andreas!
Tech Finder Unternehmen im Artikel
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