Data-Clean-Rooms in der Praxis: Zwei aktuelle Cases unter der Lupe
Anton Priebe, 3. Februar 2025Die Werbeindustrie predigt seit jeher First-Party-Daten als Heilsbringer für das Targeting nach der sogenannten “Cookiecalypse”. Diese brach zwar nicht so plötzlich über die Branche herein, wie ursprünglich gedacht. Doch die Funktionsweise der Third-Party-Cookies als Einfallstor hin zu den wertvollen Userdaten hat mittlerweile arg gelitten. Der Aufbau eigener Daten allein hilft allerdings nur bedingt weiter, wenn sie in Publisher- oder gar Plattform-übergreifenden Kampagnen zum Einsatz kommen sollen. Dann wird es meist kompliziert – technisch und vor allem rechtlich. Einen Ausweg, um Nutzer:innen datenschutzkonform übergreifend wiederzufinden oder potenzielle Neukunden anzusprechen, bieten Data-Clean-Rooms.
Data-Clean-Rooms (DCR) sind vielfältig einsetzbar und kommen in der Werbeindustrie vor allem für das sichere Matching verschiedener Datensätze zur Zielgruppenansprache sowie zur Messung zum Zuge. Denn hier können sich die Beteiligten einer Kampagne – beispielsweise eine Marke, mehrere Publisher und ein Datendienstleister – gemeinsam anschließen und ihre Daten hineingeben, ohne dass eine andere Partei Einsicht in sie hätte. Auf “neutralen Boden” werden die Daten je nach Anbieter mithilfe verschiedener Verfahren verschlüsselt, anhand eines Identifiers wie der E-Mail-Adresse oder Telefonnummer gematcht, auf Überschneidungen geprüft und eventuell angereichert. Auch Lookalikes der Matches lassen sich im Clean-Room bilden.
Am Ende kommt ein anonymisierter Datensatz zum Vorschein, der für Werbekampagnen genutzt werden kann und Marken in die Lage versetzt, User:innen auf den unterschiedlichen Präsenzen wiederzufinden und personalisiert anzusprechen. Im Falle der Lookalikes lassen sich Profile mit ähnlichen Merkmalen und Verhaltensmustern zur Neukundengewinnung adressieren. Darüber hinaus wird die Erfolgsmessung parteiübergreifend möglich.
Bislang verhielten sich die Advertiser in Deutschland zögerlich und nur vereinzelt kamen DCR-Cases ans Licht. Diese Anwendungsfälle von großen Marken sind jedoch extrem wichtig für die hiesige Werbeindustrie, um ein Momentum zu entwickeln und die Standardisierung voranzutreiben. Denn Integrationen in die technologischen Infrastrukturen kosten Geld und werden nur umgesetzt, wenn es sich auf dem Papier lohnt. Aktuell scheint das Thema DCR tatsächlich Fahrt aufzunehmen. Zwei Targeting-Fallbeispiele der Marken Samsung und McDonald’s nehmen wir im Folgenden genauer unter die Lupe.
Publicis für Samsung mit Decentriq und United Internet Media
1) Das Setup
Der neueste Case betrifft eine Kampagne, die insbesondere mit Blick auf die Zahl der erreichten User:innen aufhorchen lässt. Sie stammt aus der Feder von Publicis Media, die global mit über 23.500 Mitarbeitenden unter den Fittichen der Publicis Group agiert und unter anderem für Samsung tätig ist. Sie wollte Samsung-Kunden anhand von E-Mail-Adressen aus dem hauseigenen CRM-System Publisher-übergreifend wiederfinden und personalisiert ansprechen. Als Adtech-Dienstleister kommt der Schweizer Data-Clean-Room-Anbieter Decentriq ins Spiel, der sich mit dem Einsatz der Confidential-Computing-Technologie von der Konkurrenz abheben möchte.
Auf Publisher-Seite unterstützt der Vermarkter United Internet Media (UIM), der in Sachen Data-Clean-Rooms auffallend aktiv ist und sich als NetID-Befürworter positioniert (siehe auch Case #2). UIM ist mit den Portalen Gmx und Web.de – die meistgenutzten E-Mail-Anbieter Deutschlands – einer der größten Treiber der NetID und verknüpft den Identifier nahezu seit seiner Geburtsstunde mit seinen Nutzerinnen und Nutzern. Nach der Einwilligung wird die ID der European NetID Foundation mit der E-Mail-Adresse im Rahmen der Logins in das Postfach gekoppelt. Auf der Basis kann UIM verschiedene Targeting-Segmente bauen, Besucher:innen beim erneuten Besuch identifizieren und gezielt ansprechen.
2) Die Umsetzung
Im Fallbeispiel gab Samsung anonymisierte E-Mail-Listen aus seinen CRM-Daten in den Clean-Room von Decentriq. Diese waren auf der Grundlage der eigenen Informationen über die Kunden in 13 vorab definierte Segmente eingeteilt. UIM dockte ebenfalls an den DCR an und gab dem Adtech-Anbieter so die Möglichkeit, die Adressen aus dem CRM von Samsung mit denen des Vermarkters zu matchen. Der Datensatz von UIM enthielt zusätzlich zu der E-Mail-Adresse auch die Information, welche NetID-Kennung daran gekoppelt ist. So ließen sich die Kundenprofile von Samsung in die NetID-Welt “übersetzen”.
Der Abgleich der Überschneidungen in den Datensätzen fand täglich im Clean-Room statt. Die daraus entstandene Schnittmenge wurde an die Demand-Side-Plattform (DSP) The Trade Desk zur Aktivierung in der programmatischen Kette weitergereicht. Die ursprünglichen Samsung-Segmente blieben erhalten und konnten an eines von fünf verschiedenen Werbemitteln geknüpft werden, um die Ansprache weiter zu personalisieren.
Anhand der NetID konnten die Samsung-User:innen im Anschluss nicht nur auf den Präsenzen von UIM wie Gmx und Web.de gezielt beworben werden, sondern auch bei anderen Publishern, welche die NetID integriert haben. Dazu gehören unter anderem die Publisher der Ad Alliance von RTL.
Darüber hinaus erstellten die Verantwortlichen im Data-Clean-Room von Decentriq Lookalikes aus den Segmenten, die aus dem Pool der NetID-User von UIM modelliert wurden. So entstanden 13 neue Segmente für die Neukundenansprache, die Publisher anhand der NetID vermarkterübergreifend ansteuern konnten.
3) Die Ergebnisse
Die Kampagne lief 16 Tage lang und das Budget floss hauptsächlich in die Ansprache der Bestandskunden und -kundinnen von Samsung (70 Prozent). Insgesamt fanden die Publisher beachtliche drei Millionen User:innen wieder. Der kleinere Teil des Budgets (30 Prozent) stand für die Neukundenansprache mittels der Lookalikes zur Verfügung. Dies brachte Samsung eine Reichweite von einer weiteren Million potenzieller Neukunden und -kundinnen.
Samsung ist von den Ergebnissen überzeugt: “Innovative ID-Targeting Lösungen in Kombination mit First-Party-Datenstrategien und einem Data-Clean-Room-Ansatz stellen unter anderem wichtige Lösungsansätze für die Herausforderungen der Cookieless Future dar“, meint Ilias Ntinas, D2C Analytics & Insights Manager bei Samsung.
Annalect und OMD für McDonald’s mit Infosum, Axel Springer und UIM
1) Das Setup
Der zweite Case kommt aus dem Hause der Omnicom Group, wobei die Mediaagentur OMD mit über 13.000 Mitarbeitenden weltweit und der netzwerkeigene Datenspezialist Annalect die Fäden in der Hand hielten. Sie wollten für ihren Kunden McDonald’s gezielt für wiederkehrende Besuche in den Filialen sorgen. Zur Branchenmesse Dmexco präsentierten die Beteiligten einen Anwendungsfall für mehrstufiges Matching im Data-Clean-Room. In dem Zusammenhang sprechen die Verantwortlichen auch von “ID-Bridging”. Als Data-Clean-Room-Anbieter fungiert das britische Unternehmen Infosum, das auf seine patentierte “Non-Movement of Data”-Technologie setzt.
Aufseiten der Vermarkter kommt diesmal neben UIM der Axel-Springer-Kosmos in Gestalt von Media Impact ins Spiel. Beide wurden an den Clean-Room angeschlossen. Außerdem ist ein Datenanbieter mit von der Partie. Denn McDonald’s hatte keine First-Party-Daten beizusteuern, dafür aber Second-Party-Daten, die zum Einsatz kamen. Second-Party-Daten werden direkt von den Playern gekauft, die sie erhoben haben, und stammen beispielsweise aus vorher geknüpften Partnerschaften. Sie werden also nicht von den eigenen Systemen gesammelt – wie dem CRM im Fall von Samsung –, sondern extern für den Partner generiert. Für McDonald’s springt der Berliner Datenspezialist Adsquare in die Bresche. Adsquare hält Location- und Audience-Daten für die Planung, Aktivierung und Messung von Werbekampagnen bereit. Ein Teil der Daten kommt über Integrationen via SDK in Apps, beispielsweise Wetter-Dienste, zustande. Für McDonald’s erhoben die Berliner in diesem Kontext vorab Consent-basierte Bewegungsdaten rund um die Filialen der Fast-Food-Kette. So konnte ein Pool aus McDonald’s-Besuchern und -Besucherinnen der vergangenen drei Monate gebildet werden.
2) Die Umsetzung
Im ersten Schritt hinterlegten die Omnicom-Schwestern die Adsquare-Daten in dem Clean-Room von Infosum. Diese “Seed-Audience” basierte allerdings auf Mobile Advertising IDs (MAID) von 4,7 Millionen Geräten, sowohl aus dem Apple- (IDFA) als auch dem Android-Komos (AAID). UIM half nun abermals, die mobilen Identifier in die NetID zu “übersetzen” und das ID-Bridging durchzuführen. Dies ist möglich, da der vermarktereigene ID-Graph neben den E-Mail-Adressen aus den Login-Prozessen auch Verknüpfungen zu MAIDs beinhaltet, die beispielsweise über die Gmx-App ermittelt werden. So ließen sich letztlich 15 Prozent der 4,7 Millionen Identifier von Adsquare – also über 700.000 Personen – einer NetID aus dem UIM-Kosmos zuordnen.
An der Stelle kommt Media Impact als zweiter Vermarkter, der an den Clean-Room angeschlossen ist, zum Zuge. Auf Basis der von UIM ermittelten NetID suchte Media Impact in seinem Publisher-Kosmos nach Überschneidungen, um die von McDonald’s gewünschten Restaurant-Besucher:innen auch bei sich wiederzufinden. Um die Reichweite zu erhöhen, bildeten beide Vermarkter zusätzlich Lookalike-Audiences auf der Grundlage der gematchten NetIDs.
3) Die Ergebnisse
Absolute Zahlen wurden nicht kommuniziert, aber die Reichweite der Kampagne auf den eigenen Inventaren der Vermarkter konnte laut eigener Aussage mithilfe des Modellings mehr als verdreifacht werden (+239 Prozent). Bei 700.000 erfolgreich gematchten IDs kommen wir so auf über 2 Millionen Kontakte. Allerdings gestattet die OMD mithilfe von Adsquare weitere Einblicke in die Performance.
Nachdem die McDonald’s-Werbemittel über programmatische Deals ausgeliefert wurden, maß Adsquare, ob ein Besuch in einer Filiale erfolgte. Dafür griff der Datenanbieter auf das sogenannte Footfall-Measurement zurück, mit dem er auch bei verschiedenen Adtech-Partnern integriert ist. Dabei zeigte sich: Im Vergleich zu der Testgruppe, für die ein reines Alters-Targeting auf Cookie-Basis aufgesetzt wurde, erzielte die Kampagne weitaus höhere Conversion Rates (Restaurant-Besuche) und verursachte geringe Kosten pro Besuch – sowohl bei der gematchten als auch der Lookalike-Zielgruppe. Man darf sich nur nicht von dem höheren TKP blenden lassen.
Letztlich besuchten 3,4 Prozent der Unique User, die entweder durch das gematchte oder Lookalike-Targeting angesprochen wurden, im Anschluss eine Filiale von McDonald’s. Das Lookalike-Targeting erzielte dabei die Hälfte der Besuche.
Starke Cases, aber es fehlt an Standards
Mit Samsung und McDonald’s präsentieren die Agenturen globale Marken als Anwenderinnen von Data-Clean-Rooms. Publicis und UIM planen weitere Kampagnen auf Basis der entstandenen DCR-Datenstrecke mit Decentriq. Die OMD arbeitet auch schon länger mit Infosum partnerschaftlich zusammen und wird nicht die letzte Kampagne mithilfe der Technologie umgesetzt haben. Den kurzfristigen und skalierbaren Einsatz von Second-Party-Daten konnten sie beweisen. Gleichzeitig merkt die Agentur jedoch an, dass es lange dauert, sich vorab rechtlich abzustimmen. Hier könnten Marktstandards für vertragliche Vereinbarungen und rechtliche Rahmenbedingungen helfen.
Aus den unterschiedlichen Anbietern, die wiederum an verschiedene Unternehmen angedockt sind, ergibt sich eine diverse DCR-Landschaft, die Standardisierung erfordert. Nur so lassen sich die Kampagnen für die Werbetreibenden skalierbar umsetzen. Die Cases könnten Marken dazu motivieren, Targeting und Measurement verstärkt über DCRs umzusetzen. Marktbeobachter gehen jedoch davon aus, dass dies einige Zeit in Anspruch nehmen wird und DCRs von Advertisern auch am Ende des Jahres immer noch zögerlich eingesetzt werden. Es bleibt, auf weitere spannende Cases zu hoffen.
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