Endlich Innovation auf der Sell-Side von Programmatic
Anton Priebe, 6. Januar 2025Programmatic Advertising ist heute der Goldstandard, um digitale Werbung auszuliefern. Dies war selbstredend nicht immer der Fall. Das Prinzip des automatisierten Mediahandels zu Beginn des Jahrtausends ist mitnichten mit dem heutigen raffinierten und sehr komplexen System zu vergleichen. Seit ihrer Entstehung befand sich die programmatische Werbung stets im Wandel und hat sich rasant weiterentwickelt. Index Exchange hat den Markt als eine der ersten Supply-Side-Plattformen bereits in den Anfangszeiten mitgestaltet und den Siegeszug von Programmatic konstant begleitet. Andrew Casale, President und CEO des kanadischen Unternehmens, hat Index Exchange vor zwanzig Jahren gegründet und wirft im Interview einen Blick zurück auf die Geschichte der programmatischen Werbung. Dabei geht Casale auch auf aktuelle Trends ein und hebt insbesondere einen ausdrücklich hervor: Die sogenannte Curation sorgt seiner Meinung nach dafür, dass Innovation nicht nur von der Buy-Side, sondern endlich auch von der Sell-Side aus betrieben werden kann.
ADZINE: Andrew, wie bist du zur Digitalwerbung gekommen?
Andrew Casale: Ich habe in den späten Neunzigern angefangen, Hobby-Websites zu bauen. Einige dieser Websites wurden sehr populär und so hat vielmehr die frühe Werbetechnologie mich gefunden. Advertiser wollten mich dafür bezahlen, ihre Werbetags in meine Websites einzubauen.
ADZINE: Du hast Index Exchange vor 20 Jahren gegründet. Wie sah die Werbelandschaft damals aus?
Casale: Es war ein sehr primitiver Markt mit rudimentären Geschäftsmodellen. Die Anzeigentechnologie war statisch und Ad Server existierten noch nicht in der Form, wie wir sie heute kennen. Cookies wurden zuerst gar nicht verwendet und nach der Einführung zunächst für Frequency Capping eingesetzt, lange bevor sie für Audience Targeting genutzt wurden.
Damals gab es in der Adtech-Branche nur Werbenetzwerke – und die leisteten einen lausigen Job bei der Kundenbetreuung. Es waren weniger Kontrolle und Transparenz vorhanden, was die Publisher ziemlich frustriert hat. Die Margen waren zwar höher als heute, aber das Vertrauen in den Markt war noch geringer.
Ich erkannte also die Chance, eine Plattform zu entwickeln, die sich auf die Sell-Side fokussiert, auf die Publisher. Ursprünglich, bei der Gründung, waren natürlich auch wir ein Werbenetzwerk. Aber als Programmatic aufkam, konnten wir die Buy-Side verlassen und die Exchange werden, die wir heute sind.
ADZINE: Wie würdest du den heutigen programmatischen Mediahandel beschreiben?
Casale: Das heutige Level, auf dem wir alle operieren, ist jenseits aller Vorstellungskraft. Wir verarbeiten bei Index sechseinhalb Millionen Anfragen pro Sekunde. Visa, das globale Bezahlsystem, kommt vergleichsweise nur auf 30.000 Anfragen pro Sekunde. Alles ist jetzt datengesteuert. Plattformen geben im Namen der Mediaeinkäufer Gebote ab, die auf ihre Audience-Daten und ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Während die damaligen Mediapläne statisch waren, geht es heute extrem dynamisch zu. Außerdem glaube ich, dass wir mittlerweile einen Grad an Transparenz erreicht haben, der für Vertrauen im Markt sorgt.
ADZINE: Lass uns über eine interessante Beobachtung mit Blick auf die Trennung von Buy- und Sell-Side sprechen. Manche SSPs integrieren zunehmend Agenturen und Marken, damit sie Media direkt an sie verkaufen können. Es gibt auch DSPs, die direkt mit Publishern zusammenarbeiten. Wie bewertest du diese Entwicklung?
Casale: Einige unsere Mitstreiter auf der SSP-Seite haben “Baby-DSPs” gebaut, ja. Wir werden aber nicht auf die Buy-Side abwandern. Denn es gibt noch so viel Innovationspotenzial auf der Sell-Side zu heben. Die Entwicklung einer DSP würde unseren Fokus verlagern und wir würden unser Ziel aus den Augen verlieren.
Wir möchten die Transaktionskosten in Programmatic so gering wie möglich halten. Wir nennen das “die totale Markteffizienz”. Die DSPs, die auf der Angebotsseite aktiv sind, und die SSPs, die auf der Nachfrageseite tätig sind, suchen eher nach Möglichkeiten, um ihre Margen beizubehalten oder zu vergrößern. Wir wollen hingegen unsere Kosten und damit die Kosten der Einkäufer und Verkäufer senken.
Wir sehen diese Entwicklung aber nicht wirklich als Bedrohung an. Google ist wie Amazon oder Yahoo seit jeher auf beiden Seiten des Programmatic-Ökosystems tätig und trotzdem sind sie Partner von uns geworden. Das offene Internet ist groß genug für uns alle, denke ich.
ADZINE: Ein weiterer Trend ist die sogenannte Curation. Publisher schnüren Pakete aus Daten und Inventar, die vermarktet werden und Sell-Side-Targeting ermöglichen. Glaubst du, dass dies die Zukunft des Mediahandels ist?
Casale: Wir sind fasziniert von Curation – und ich möchte an der Stelle nochmals betonen, dass wir bereits seit zwanzig Jahren am Markt sind. Wir haben Programmatic aufsteigen, Header Bidding entstehen und Connected TV an Fahrt aufnehmen sehen. Curation wächst schneller als alles, was wir jemals beobachtet haben.
Curation wird wie du sagst als eine neue Möglichkeit betrachtet, wie Publisher ihre Daten in Mediaangebote verpacken können. Das stimmt auch, ist jedoch nur einer der Anwendungsfälle. Wir denken in einem größeren Rahmen: Die Sell-Side wurde bislang als reine Infrastruktur angesehen, die lediglich Auktionen durchführen darf. Die Wertschöpfung in Programmatic fand auf der DSP-Seite statt. Die DSP aktiviert die Daten, steuert algorithmisch die Performance, verifiziert die Kampagnen, fügt das Creative hinzu et cetera.
Aber jetzt ergibt sich tatsächlich die Chance, Innovation von der Sell-Side aus zu betreiben. Publisher können ihre Daten verpacken und ihr Inventar kuratieren, sodass die Einkäufer genau wissen, was sie kaufen. Individuelle Algorithmen, die zuvor auf der Buy-Side integriert wurden, können auf der Sell-Side implementiert werden. Jetzt werden Daten also auf der Angebotsseite aktiviert. Wir betreiben einige Marktplätze, die sogar Creatives auf der Sell-Side einbauen. Wir sehen Use Cases rund um Daten, Creatives, Commerce, Algorithmen, Agenturen und Publisher.
ADZINE: Verschiebt sich dadurch das Machtgefüge im Programmatic-Ökosystem?
Casale: Es ist ein neuer Pfad für mehr Innovation, und wir wissen nicht, wohin er führen wird. Aber wir glauben daran, dass es letztlich in mehr Wahlfreiheit resultiert. Denn wenn die Wertschöpfung in Programmatic nur in der DSP stattfindet, müssen wir auf einige Anwendungsfälle verzichten.
Ein Beispiel: Du hast eine gute technische Idee, aber die DSP kann sie nicht umsetzen. Sie ist komplett damit ausgelastet, andere Features und Funktionen zu entwickeln, die sich anstauen, weil ja auch alle anderen zu ihnen mit ihren Ideen kommen. Also muss deine Lösung zwei Jahre warten. Wenn du deine Idee aber auch auf der Angebotsseite vorschlagen kannst, kann die Innovation sofort umgesetzt werden. Wir haben genug Ressourcen – die Hälfte unseres Unternehmens besteht aus Ingenieuren und Produktspezialisten. Der Trend rund um die Messung von CO2-Emissionen wird beispielsweise auch von der Sell-Side unterstützt. Im Endeffekt sind wir jetzt dieses neue Gefäß für Innovation.
Wir glauben, dass Curation den Markt neu strukturieren wird. In drei bis fünf Jahren wird man alles, was man auf der Nachfrageseite tun kann, auch auf der Angebotsseite abbilden können. Das Machtgefüge wird sich zwar nicht verschieben, aber Curation führt letztlich zu mehr Wahlmöglichkeiten. Einkäufer und Publisher können sich entscheiden, wo sie Wertschöpfung betreiben möchten.
Wir hypen Trends nicht um des Hypes willen. Das, was jetzt gerade passiert, ist ein ganz besonderer Moment für Programmatic Advertising.
ADZINE: Siehst du abseits von Curation noch weitere Trends in der programmatischen Werbung?
Casale: Connected TV ist natürlich ein großer Wachstumsmarkt. Ein besonders spannendes Feld hier sind Live-Übertragungen. Wenn es bei einer Sportübertragung in eine Werbepause geht, will jedes Gerät im gleichen Moment eine Anzeige ausgeliefert bekommen. Wir arbeiten zurzeit daran, die Anfragen noch vor der Werbeunterbrechung zu senden, sodass sie sich nicht zu sehr stauen.
Außerdem glaube ich, dass die Messlatte für Transparenz künftig noch höher gesetzt wird. Die Frustration der Mediaeinkäufer wächst, weil sie nicht wissen, wo ihre Werbedollar landen. MFA, Made for Advertising, ist hier zum Beispiel ein großes Thema. Das hätte niemals ein Teil von Programmatic werden dürfen.
Über Third-Party-Cookies haben wir bislang nicht gesprochen. Wir müssen endlich über den Cookie hinwegkommen. Es ist ein veraltetes, archaisches Werkzeug für Adressierbarkeit. Auch die IP-Adresse wird bald für das Targeting wegfallen. Wir befinden uns in einer Consumer-First-World. Davor kann man sich nicht verstecken. Adressierbarkeit wird sich je nach Kanal, Markt und Format unterscheiden. Es wird Inventar geben, das in einem Cleanroom deterministisch adressierbar ist. Anderes wird cookieless angesteuert oder greift für das Targeting etwa auf eine Technologie im Browser oder eine vom Betriebssystem bereitgestellte Lösung wie Sandbox zurück. Wir müssen in Zukunft in der Lage sein, in mehreren Modi gleichzeitig zu agieren.
ADZINE: Danke für das Interview, Andrew!
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