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PROGRAMMATIC

Die 1-Prozent-CTR-Lüge – Eine gefährliche Illusion

Lucas Schärf, 23. Oktober 2024
Bild: Randy Jacob - Unsplash

Es ist höchste Zeit, ein Thema anzusprechen, das in der Branche geradezu erschreckend stillschweigend hingenommen wird: die angeblich sensationellen Performancewerte in Form von Klickraten (CTRs) von über 1 Prozent, die auf programmatischen Open-Market-Kampagnen erzielt werden. Immer wieder höre ich von Advertisern wie auch Agenturen das Argument, dass diese Open-Market-Kampagnen kuratierte Private Marketplace Deals (PMPs) in der Performance übertreffen. Die Begründung? Die CTR sei einfach viel besser. Doch wenn man genauer hinsieht, fällt dieses Argument wie ein Kartenhaus in sich zusammen – und das mit gutem Grund.

Wie kann das sein?

Private Marketplace Deals, die auf kuratierten, speziell ausgewählten Inventaren mit höchster Sichtbarkeit laufen, sollen schlechter performen als der Open Market? Das hat mein Interesse geweckt. Deshalb habe ich mir in den letzten Monaten einige dieser Kampagnen genauer angesehen, um herauszufinden, was wirklich dahintersteckt.

In mehreren Gesprächen wurden mir CTRs von bis zu 1 Prozent auf klassischen Display-Kampagnen im Open Market kommuniziert. Wir sprechen hier von herkömmlichen Formaten wie Universal Ad Package (UAP) auf Desktop, Mobile Web und In-App-Inventaren – keine Interstitials, keine aggressiven Layover-Ads. Jeder, der länger im Online-Marketing tätig ist, weiß jedoch, dass Klickraten von 1 Prozent auf Standard-Banner zu hinterfragen sind.

Auf der Spur nach der Wahrheit

Um das Mysterium zu klären, haben wir uns auf Bitten von drei verschiedenen Kunden die Reports ihrer DSPs genau angesehen. Diese Kampagnen umfassten sowohl Open-Market- als auch parallel laufende PMP-Deals, die mit identischen Werbemitteln liefen, sodass wir perfekte Vergleichsmöglichkeiten hatten.

Es dauerte nur wenige Klicks in Excel, bis sich der Sachverhalt offenbarte: Von den Tausenden Domains, die in den Open-Market-Kampagnen bespielt wurden, wiesen mehr als 20 Prozent eine CTR von über 25 Prozent auf! 5 Prozent der Domains übertrafen sogar die 50-Prozent-Marke, und Dutzende erreichten Klickraten von 100 Prozent. Diese “Performancewerte” zeichnen ein klares Bild.

Als wir uns die Mühe machten, die betroffenen Domains mit solch grotesk hohen Klickraten genauer zu analysieren, ergab sich ein klares Bild: „Made for Advertising“-Websites (MFA), vollgepackt mit Anzeigen, UAP-Formate, die über die gesamte Seite gelegt wurden – kurzum, es war ein einziges Fest für Invalid Traffic (IVT) oder, um es deutlicher zu sagen: Betrug.

Der schmutzige Hintergrund

Noch schockierender als die unplausiblen CTRs war die Tatsache, dass rund 85 Prozent dieser Domains sogenannte “cross-border”-Inventare waren – also keine nationalen Medienangebote. Eine nicht unerhebliche Anzahl dieser Seiten stammte zudem aus Russland. Dass hier das Embargo keine Rolle zu spielen schien, ist das eine; die zugrunde liegenden ethischen Fragen aber sind andere.

Rechnet man die CTRs aller Domains, die eine Klickrate von über 3 Prozent aufweisen, aus den Open-Market-Kampagnen heraus, sieht die Welt plötzlich ganz anders aus: Der PMP-Deal übertrifft den Open Market – und wir sprechen hier nur von einer simplen Kennzahl wie der Klickrate. Betrachtet man dann Conversions oder die Time-on-Site-Metriken, zeigt sich schnell, dass der PMP in Sachen Qualität von Anfang an die Nase vorn hatte.

Billige Klicks sind teuer – und das für uns alle

Hinterfragenswert ist nicht nur die Toleranz gegenüber diesen fragwürdigen Praktiken, sondern auch die Naivität, mit der sie akzeptiert werden. Auf Konferenzen und Podiumsdiskussionen wird ständig betont, wie wichtig es ist, nationale Medienangebote zu fördern und den seriösen Journalismus zu unterstützen. Doch was nützt all das Gerede, wenn die Einkaufstaktik in der Praxis nur auf eines abzielt: billige Klicks, koste es, was es wolle?

Der Open Market an sich ist nicht das Problem. Es ist absolut möglich, hier qualitativ hochwertigen Traffic zu kaufen, aber das erfordert Kontrolle und vor allem Verantwortung. Wenn uns qualitativ hochwertiger Journalismus und liebevoll betriebene Webseiten wirklich ein Anliegen sind, dann sollten wir sie auch entsprechend berücksichtigen. Ansonsten sieht es mit der nationalen Wertschöpfung traurig aus. Günstige Klicks sind am Ende viel teurer als gedacht – und zwar nicht nur für den Kunden, sondern für uns alle. Wer Metriken hinnimmt, ohne diese zu hinterfragen, spielt mit dem Feuer und trägt dazu bei, das Vertrauen und die Wertschöpfung in unserer gesamten Branche zu untergraben.

Ein Appell an die Vernunft

Es ist höchste Zeit, dass wir als Branche umdenken. Lass dich nicht länger von schönen Zahlen blenden, sondern schau genauer hin. Eine CTR von über 1 Prozent klingt gut – ist aber oft nicht mehr als eine Illusion. Wenn wir die Zukunft der digitalen Werbung ernst nehmen, sollten wir auf Qualität setzen, auch wenn das bedeutet, dass wir unbequeme Fragen stellen und vielleicht auf den schnellen „Erfolg“ verzichten müssen.

Denn am Ende des Tages zählt nicht die Klickrate, sondern die Qualität des Traffics. Diejenigen, die das nicht verstehen, zahlen letztlich den höchsten Preis.

Tech Finder Unternehmen im Artikel

Bild Lucas Schärf Über den Autor/die Autorin:

Lucas Schärf ist seit mehr als 15 Jahren in der Werbe- und Technologiebranche tätig. Aktuell verantwortet er als Chief Revenue Officer bei Connectad die Supply- als auch Demand-Sales Umsätze wie auch strategische Partnerschaften.

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