Es war nur ein kurzer Blogpost von Google, doch er hat die Werbewelt in Aufruhr versetzt. Die Essenz: Third-Party-Cookies bleiben. Das damit einhergehende Tracking in Chrome soll Nutzerinnen und Nutzern künftig besser erklärt werden. Mit der Privacy Sandbox geht es trotzdem weiter. Nachdem sich der Staub gelegt hat, bringt ADZINE mithilfe der Adtech-Fachleute Ordnung in die Gemengelage und beantwortet die wichtigsten Fragen.
Die Formulierungen von Anthony Chavez, VP der Privacy Sandbox, sind schwammig. Der Google-Mitarbeiter verkündet “einen neuen Weg für die Privacy Sandbox im Netz”. Wie genau der aussehen wird, ist noch unklar. Klar ist nur, dass Google die Drittanbieter-Cookies doch nicht – wie seit Jahren geplant und angekündigt – aus Chrome verbannen wird.
Tom Peruzzi, Sprecher der Geschäftsführung und CTO der Adtech-Gruppe Virtual Minds, sieht darin letztlich einen gescheiterten Versuch, “die Werbebranche zum Wechsel auf eine eigene Insellösung zu zwingen, um mit ihr Daten zu monopolisieren und dadurch den freien Wettbewerb mindestens in Teilen außer Kraft zu setzen.” Ein hartes Urteil, doch laut Peruzzi ging es bei der Cookie-Eliminierung in Chrome von Beginn an, “wenn überhaupt, nur vordergründig um das Thema Datenschutz.” Zu viele datenschutzrechtliche Fragen und mangelnde Produktreife der Sandbox würden nun dazu führen, dass die Branche die Arbeiten an den Sandbox-Integrationen auf Eis legt.
Können sich Advertiser entspannen?
Machtspielchen hin oder her, Privacy Sandbox auf Eis und die gewohnten Third-Party-Cookies in Chrome – das klingt im ersten Moment nach einer guten Nachricht für Advertiser. Schließlich haben die meisten Werbetreibenden ohnehin abgewartet, bis die Technologielandschaft Cookieless-Lösungen präsentiert. Die Advertiser sollten jedoch mitnichten aufatmen, weiß Tobias Wegmann, CTO der Agentur Mediaplus Realtime. “Herkömmliche, Cookie-basierte Techniken sind im digitalen Marketing aufgrund von Datenschutz- und Browserbeschränkungen nicht mehr besonders effizient und erreichen nur noch einen Teil der Nutzer:innen. Die Entscheidung von Google ersetzt ein abruptes Ende für das Third-Party-Cookie jetzt durch ein allmähliches Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit”, so der Agenturfachmann. Die geplante Consent-Abfrage in Chrome würde die verbliebenen Cookie-Reichweiten mehr als halbieren, der Regulierungsdruck von Politik und Behörden auf das Cookie als Symbol des Trackings bleibe hoch. “Das wird auf Cookies gestützte Kampagnentaktiken schließlich so obsolet wie den Versand von Faxen machen”, ist Wegmann überzeugt.
Was ändert sich also konkret in Chrome? “Es ändert sich nur, dass Google künftig den Nutzer:innen die Entscheidung über die Nutzung von Third-Party-Cookies überlässt, dieses Vorgehen kennen wir bereits von Apple aus 2021”, erklärt Olaf Peters-Kim, Mitgründer der Welect GmbH. “Von einer wirklichen Abkehr vom Cookie-Aus kann jedoch nicht die Rede sein. Das Nutzungsverhalten der Menschen hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt, wenn wir einen Blick auf die steigenden No-Consent-Quoten werfen.” Bei Zweifeln solle man sich an die Auswirkungen von Apple ATT 2021 erinnern. Daher sind Lösungen, die Consent-unabhängig funktionieren, laut Peters-Kim weiterhin die Zukunft.
Was hat es mit der Consent-Überarbeitung auf sich?
Google überarbeitet also sein Verfahren zur Einholung der Nutzereinwilligungen, um weiterhin cookiebasiert zu tracken. Über die Ausprägung lässt sich nur spekulieren. “Für die Adtech-Branche wird entscheidend sein, ob es wie bisher angekündigt bei einem einmaligen Dialog bleibt und ob das Design eher einem Opt-in- als einem Opt-out-Verfahren entspricht”, so Peters-Kim.
Laut Jochen Schlosser, CTO von Adform, steckt mehr dahinter. “Es geht ‘einfach’ um Einholung der Zustimmung des Nutzers, was absoluter Standard ist und von der DSGVO so vorgeschrieben wird. Dafür soll nun eine neue ‘User Experience’ erstellt werden.” Wie sein Branchenkollege verweist Schlosser bei der möglichen Umsetzung auf Apples ATT und kommt zu demselben Urteil. Die Cookies werden an Consent-Schwäche sterben, prognostiziert der promovierte Informatiker. Dadurch könnte die Adressierbarkeit in Chrome immer noch signifikant sinken, was sicherlich nicht zum Schaden der großen Plattformen wäre. Hier liegt der Knackpunkt. “Genau wegen dieses Risikos haben die CMA und andere Wettbewerbsbehörden sich überhaupt für die Sandbox und das Abschalten der Cookies interessiert. Viel gravierender, als wie genau diese ‘informed choice’ aussieht, ist, dass Google, je nach Abschlussbericht der CMA, gegebenenfalls ohne jegliche Aufsicht an diesen Themen weiterarbeitet”, erklärt Schlosser.
Diese Gefahr sieht Tom Peruzzi von Virtual Minds ebenfalls. “Hinter der jetzt ins Spiel gebrachten ‘informierten Entscheidung’, die an einer Stelle im Chrome-Browser offensichtlich für das gesamte Webbrowsing getroffen werden soll, steckt möglicherweise bereits der nächste Angriff von Google auf das freie Spiel der Kräfte im offenen Internet. Die bislang nur in homöopathischen Dosen verfügbaren Informationen zu diesem neuen Modell geben weder Aufschluss darüber, was genau unter einer informierten Entscheidung zu verstehen ist, noch wie eine solche offensichtlich global gültige Entscheidung mit den rechtlich notwendigen Publisher-individuellen Nutzer-Consents, die in der Regel über CMP erfolgen, in Einklang zu bringen ist.”
Was bedeutet diese Kehrtwende für die Arbeit an der Privacy Sandbox?
Es bleibt also abzuwarten, inwiefern Nutzereinwilligungen eingeholt werden und ob sich Google tatsächlich den wachsamen Blicken der Aufsichtsbehörden entziehen kann. Die Privacy Sandbox dürfte ihre Fahrt jedenfalls verlangsamen, aber keine Vollbremsung hinlegen. “Letzten Endes wird die Privacy Sandbox immer noch weiterentwickelt, und das bedeutet unterm Strich massive Änderungen bei Audiencedaten, Mediaeinkauf und Messung in Chrome”, meint Drew Stein, CEO und Gründer des Datenspezialisten Audigent, der mit Google im engen Austausch steht. Die Ankündigung sei nicht viel mehr als ein Taschenspielertrick. “Eines ist sicher – diese Katz- und Mausspiele müssen aufhören, und Google muss sich ernsthaft mit der Behebung der Privacy Sandbox befassen, anstatt wieder einmal mit der Abschaffung von Cookies zu spielen, um von den wichtigsten Herausforderungen abzulenken, die durch die vorgeschlagenen Veränderungen in Chrome entstehen”, so Stein.
Ein weiteres Unternehmen, das seit Beginn der Arbeiten an der Sandbox mitwirkt und die Lage einschätzen kann, ist Criteo. Hier freut man sich über die Kehrtwende. “Auch aufgrund unserer Testergebnisse zur Privacy Sandbox halten wir diesen Schritt von Google für die Branche sehr willkommen”, formuliert Benedict Gründig, Director Business Development bei Criteo, diplomatisch. An der eigenen mehrgleisigen Addressability-Strategie ändere sich nichts und man werde – in Einklang mit den geltenden Datenschutzbestimmungen – weiterhin Third-Party-Cookies verwenden, wenn diese in Chrome verfügbar sind. “Natürlich werden wir auch künftig gemeinsam mit Google an der Privacy Sandbox arbeiten, um sicherzustellen, dass unsere Strategie auch dort wirksam ist, wo Third-Party-Cookies nicht verfügbar sind”. Google prüfe derzeit noch Criteos Empfehlungen für Verbesserungen an der Privacy Sandbox.
Adforms Jochen Schlosser findet deutliche Worte: “Ich hoffe, dass die Werbetreibenden Google mitteilen und spüren lassen, dass dieses Projekt kein grandioser Erfolg war und dieser abrupte Richtungswechsel keine ‘Amazing News from the Privacy Sandbox Team’ sind. Am Ende fressen diese Diskussionen Zeit und Geld, Innovation leidet und Fortschritt wird behindert. Ein noch klarerer Fokus auf First-Party-IDs hätte uns sehr viel weiter gebracht in den letzten Jahren.”
Welche Folgen ergeben sich für die Werbeindustrie?
Dass die Werbetreibenden nicht aufatmen können, ist bereits klar. Doch was sollten sie stattdessen tun? “Ich gehe davon aus, dass ein gewisser Teil der Werbetreibenden erstmal auf die Bremse drückt, was das Experimentieren mit neuen Targeting-Lösungen angeht. Das wäre aber völlig fehlgeleitet”, urteilt Quantcasts DACH-Chefin Sara Sihelnik. Mit Kanälen wie Connected TV, Audio, Native, Display und Digital-Out-of-Home sei die große Mehrheit des Marketing-Ökosystems bereits frei von Cookies. Google Chrome decke etwa die Hälfte des verfügbaren Webs ab und von den eingeschlossenen Websites würden momentan lediglich 20 bis 25 Prozent überhaupt noch Third-Party-Cookies nutzen. “Mit diesem Bruchteil wird man kein effektives Targeting betreiben können”, sagt Sihelnik. “Die fast schon obsessive Fixierung auf Cookies tut der Branche nicht gut. Der Fokus sollte für Werbetreibenden im Internet stattdessen weiterhin auf neuen, innovativen Ansätzen und speziell auf dem Open Web, das 70 Prozent des Internets ausmacht, außerhalb der Walled Gardens liegen.”
An der Stelle kann Frederick Himperich, Geschäftsführer des Monetarisierungsexperten Traffective, nur zustimmen. Traffective agiert als Vermarkter mit eigener Technologie außerhalb der Walled und hat mit seiner Consent-Management-Plattform tiefe Einblicke in die Materie der Nutzereinwilligungen zu Werbezwecken. “Was immer Google tut: Es hat globale Auswirkungen auf die Werbewirtschaft und alle Publisher im Open Web – und damit unmittelbar auf die Markt- und Meinungsvielfalt”, glaubt Himperich, Geschäftsführer von Traffective. Der Publisher-Experte sieht die Werbungtreibenden und Agenturen in der Pflicht, die Potenziale cookiefreier Umfelder zu heben. “Denn dort ist die Nachfrage bislang geringer, die programmatischen TKPs entsprechend attraktiv und das Ökosystem lässt eine verlässliche Planung zu.”
Abseits der Chancen, die sich ergeben, richtet Tom Peruzzi erneut den Appell an die gesamte Branche: “Der Markt tut daher gut daran, weiterhin unabhängige alternative Lösungen, die über alle Browser hinweg funktionieren, zu forcieren, um kritische Abhängigkeiten von einzelnen Gatekeepern zu verhindern. Und er tut gut daran, sein Geld in den Aufbau eigener Wettbewerbsstärke zu investieren, statt es willfährig Unternehmen wie Google über deren ‚Marktbeschäftigungsprogramme‘ zu opfern.“
Vermarkter pochen weiter auf alternative, cookielose Lösungen
Aufseiten der Publisher ist man vielerorts schon länger auf eine Zeit komplett ohne Third-Party-Cookies eingestellt. Martin Pichler, CSO des Spezialvermarkters Highfivve, ist sich sicher: “Aus unserer Sicht ist die Entwicklung hin zu einer Cookieless Future nicht mehr aufzuhalten.” Trotz der Entscheidung Googles würden diejenigen profitieren, die in Alternativen investiert haben. Die Branche müsse sich an eine Multi-ID- und Multi-Signal-Umgebung anpassen. “Wir arbeiten seit mehreren Jahren erfolgreich mit verschiedenen ID-Anbietern zusammen und haben bereits positive Ergebnisse erzielt. Wir erwarten, dass alternative Identitätslösungen zunehmend angenommen und weiterentwickelt werden”, so Pichler.
Zu den ID-Lösungen gehören entsprechende Daten, die damit verknüpft werden können. Auch für kontextuelle Lösungen müssen entsprechende Dateninfrastrukturen vorhanden sein. Jörg Vogelsang, Chief Digital Officer bei BCN – dem gemeinschaftlichen Vermarkter von Burda, Funke und Klambt –, betont die Bedeutung von eigenen Daten in dem Zusammenhang. “Unsere Tests zeigen, dass First-Party-Daten großes Potenzial haben: Wir konnten den Traffic auf Safari und Firefox, die Third-Party-Cookies längst blockieren, sinnvoll monetarisieren. Werbetreibende profitieren von einem besseren ROAS, Publisher von einem höheren eTKP und die Werbung ist für Konsumentinnen und Konsumenten wieder relevanter – natürlich unter Beachtung der geltenden Datenschutzbestimmungen.“
Dirk Kraus, CEO des Mobile-Adtech-Unternehmen YOC, fasst zusammen: “Lösungen und alternative Ansätze, die Adressierbarkeit und Targeting für eine effektive Monetarisierung und Zielgruppenerreichung realisieren, werden nicht nur relevant bleiben, sondern ihre Bedeutung wird zunehmen. Folglich bleiben Investitionen in intelligente Targeting-Lösungen, die nicht auf Drittanbieter-Cookies angewiesen sind, sondern diverse Targeting-Lösungen unterstützen, wichtig, um sowohl effektive als auch datenschutzkonforme Technologien zu gewährleisten.”
Nicht alle sind davon überzeugt, dass die breite Masse zu dieser Erkenntnis gelangt ist. “Zu befürchten ist, dass sich viele Marktteilnehmer vor allem auf Publisher-Seite an die verbliebenen Cookies klammern und im Status quo verharren werden”, erwartet Tobias Wegmann von Mediaplus. Es bleibt zu hoffen, dass die Werbeindustrie den Agenturler eines Besseren belehren kann.
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