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ADTECH

Freund oder Feind? KI und kontextuelles Targeting

Jan Heumüller, 26. Juni 2024
Bild: Bing KI

Mit Blick auf die Post-Cookie-Welt setzen viele Adtech-Unternehmen auf Contextual Targeting als eine schnelle Lösung, um Adressierbarkeit für Werbemaßnahmen herzustellen. Allerdings kommen Zweifel an der Nachhaltigkeit dieses Modells auf, vor allem mit dem Aufstieg der Künstlichen Intelligenz (KI).

Websites verschwinden…

Bisher drehen sich die Diskussionen über KI im digitalen Publishing meist um KI-generierte Inhalte. Dies trifft zum Beispiel auch auf den jüngsten Skandal um den Herausgeber von Sports Illustrated zu, der ein negatives Licht auf KI wirft. Der Publisher hatte KI-generierte Inhalte unter dem Namen falscher Autoren mit wiederum KI-generierten Fotos veröffentlicht und musste letztlich personelle Konsequenzen daraus ziehen.

Der Einsatz künstlicher Intelligenz steht jedoch vielmehr in direktem Zusammenhang damit, wie wir Online-Inhalte konsumieren. Denn wenn ein KI-Tool eine Antwort auf jede Frage zu jedem Thema geben kann – warum sollten wir dann noch eine spezifische Website besuchen?

Bald muss man kein ChatGPT-Anhänger mehr sein, um diese Veränderungen selbst zu spüren. So wurden in den USA gerade erst Googles AI Overviews (ehemals Search Generative Experience) ausgerollt, die schon bald auch in anderen Ländern verfügbar sein sollen. Für das Ende des Jahres ist bereits eine Reichweite von einer Milliarde Nutzern anvisiert. Die AI Overviews nutzen die KI von Google, um auf Suchanfragen direkt Antworten in Text- oder Multimediaform zu geben, ähnlich wie bei einem Chat. Dieser Schritt stellt eine erhebliche Bedrohung für den organischen Traffic von Websites dar – und damit für ihr Überleben.

Trotz dieser dunklen Wolken am Horizont gilt dem Verlust der Cookies derzeit die Hauptsorge der Publisher, sogar der großen Nachrichtenportale. Publisher verzeichnen in cookielosen Browsern wie Safari seit einigen Jahren Einbußen beim Tausender-Kontakt-Preis (TKP) von bis zu 60 Prozent. Erste Tests mit Chrome zeigen Verluste von mindestens 30 Prozent. Vor diesem Hintergrund erwägen einige Publisher drastische Maßnahmen, wie die Reduzierung ihres Website-Portfolios oder die Verkleinerung der Teams. Dabei führten die Bedenken der britischen Wettbewerbsbehörde (UK Competition and Markets Authority) hinsichtlich Googles Privacy-Sandbox-Lösung letztlich dazu, dass der Technologiekonzern die Einführung des cookielosen Browsers nochmals verschoben hat.

...und Preise steigen

Das Schwinden der Cookies ist auch aufseiten der Advertiser in aller Munde. Während Agenturen und vor allem Marken das Thema lange Zeit umschifft haben – einige tun dies dank Googles Verschieben der Deadline weiterhin –, haben viele von ihnen den dringenden Bedarf an Cookieless-Lösungen erkannt. In diesem Zusammenhang ist nichts einfacher als … kontextbezogenes Targeting. Zumindest erweckt es den Anschein.

Kontextbezogene Werbung ist in gewisser Weise die große Rückkehr des “gesunden Menschenverstands” im Marketing – die gezielte Ansprache von Zielgruppen durch die Platzierung von Werbung an kontextuell relevanten Stellen. Jedes Adtech-Unternehmen ist heute dazu in der Lage, kontextuelles und semantisches Targeting zu nutzen, im besten Fall mit der Unterstützung von maschinellem Lernen.

Ein typisches Beispiel für ein solches Targeting ist das Ausspielen einer Anzeige für Rennräder beim Browsen durch den Radsportbereich von Spiegel Online. Zugegebenermaßen ist diese Targeting-Methode recht simpel und begrenzt – Menschen haben vielfältige Interessen und besuchen nicht unbedingt Websites, die mit all diesen Interessen zu tun haben.

Die derzeitige Begeisterung für kontextbezogenes Targeting wird zusätzlich dadurch genährt, dass Cookies noch nicht aus Chrome verschwunden sind. Denn mit Eintritt in die Post-Cookie-Welt (Anfang 2025) wird auf einmal jede Marke auf denselben Websites Werbeplätze einkaufen wollen. Das bedeutet übersättigte Inventare, höhere CPMs, geringere Performance und letztlich einen geringeren ROI. Dies haben die meisten Advertiser jedoch noch nicht auf dem Radar.

Das Zeitalter der Zero-Party-Daten

Die Anzahl der kontextrelevanten Websites für eine Kampagne ist begrenzt. Bei höherem Wettbewerb nimmt also auch die Zahl der verfügbaren Seiten ab. Da die neue Frist 2025 näher rückt, brauchen Marken und Agenturen tatsächlich nachhaltige Lösungen, wenn sie langfristig erfolgreich sein wollen.

Eine Methode, die sich als Spitzenreiter herauskristallisiert, sind Zero-Party-Daten. Zero-Party-Daten werden von den Verbrauchern freiwillig im Rahmen eines völlig transparenten und einvernehmlichen Informationsaustauschs weitergegeben. Aber sie sind traditionell schwierig und kostspielig zu beschaffen. Sie bieten umfassendere und präzisere Einblicke in die Gewohnheiten der Verbraucher als Third-Party-Daten, einschließlich Daten zu Vorlieben, Kaufabsichten, persönlichem Kontext oder zur Art, wie sie von Marken angesprochen werden möchten. Durch die Kombination dieser Insights mit herkömmlichen Targeting-Daten – wie semantischen Details oder Daten aus Bid Requests – können Marken neue Informationsquellen erschließen.

Zielgruppen über ihren Browsing-Kontext hinaus zu verstehen und zu qualifizieren, wird umso wichtiger, je mehr das offene Web an Bedeutung gewinnt. In den vergangenen Jahren hat das Open Web Marktanteile der Walled Gardens für sich beansprucht, da den Werbetreibenden zunehmend bewusst wurde, dass sie ihre Datenquellen diversifizieren müssen. Darüber hinaus sollte uns das potenzielle Schwinden von Seiten und Websites darauf stoßen, dass es noch ein ganz anderes Umfeld gibt, in dem relevante Werbung ausgeliefert werden kann, ohne auf Contextual Targeting angewiesen zu sein: Apps. Unabhängig von MFAs oder dem Verlust des Cookies bietet In-App den perfekten Ort, um Zielgruppen anzusprechen und eine Zero-Party-Datenlösung zu entwickeln.

Das Versprechen des Contextual Targeting als einfach zu integrierende Cookieless-Lösung mag für Werbetreibende verlockend sein. Doch bei genauerer Betrachtung stößt sie an ihre Grenzen und ist in einer Welt ohne Identifier nicht nachhaltig. Statt kurzfristige Lösungen zu integrieren, müssen Werbetreibende in Lösungen investieren, die über eine einfache semantische Analyse hinausgehen, um die Zielgruppe einer Website zu qualifizieren. Da die Cookie-Frist immer näher rückt und der Aufstieg der künstlichen Intelligenz das offene Web, wie wir es kennen, bedroht, müssen Werbetreibende Lösungen testen, die auch in Zukunft Ergebnisse erzielen können.

Tech Finder Unternehmen im Artikel

Bild Jan Heumüller Über den Autor/die Autorin:

Seit Anfang 2019 baut Jan Heumüller für Ogury, dem Spezialisten für Personified Advertising, das Geschäft in den deutschsprachigen Märkten auf. Heumüller hat über 18 Jahre Erfahrung in der internationalen digitalen Marketing-Branche. Nach Stationen unter anderem bei eVita und ePost war er Geschäftsführer des Softwarespezialisten dacoma und des AdNetworks Ybrant Digital, bevor er als Managing Director Europe bei DataXu, einem führenden Anbieter von Programmatic Marketing Software, das europäische Geschäft verantwortete. Im Anschluss etablierte er TabMo, die führende Creative Mobile DSP, erfolgreich im deutschsprachigen und osteuropäischen Raum.

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