Die deutsche Digitalwirtschaft steht vor immensen Herausforderungen. Die Wirtschaftslage insgesamt ist angespannt, so ist Europas größte Volkswirtschaft laut aktuellen Zahlen nur knapp an einer Rezession vorbeigeschrammt. Gleichzeitig wächst der Druck von außerhalb, denn der globale Wettbewerb ist stark und neue Technologien verunsichern den Markt. Wie können sich die lokalen Marktteilnehmer in der digitalen Wirtschaft behaupten? Carsten Rasner, Geschäftsführer des Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), zeigt im Interview die Chancen für hiesige Unternehmen auf, insbesondere für die Werbeindustrie.
ADZINE: Hallo Carsten, das erste Halbjahr 2024 ist schon fast rum. Wie ist dies aus Sicht der deutschen Digitalwirtschaft gelaufen?
Carsten Rasner: Die OVK-Prognose sieht 8 Prozent Wachstum für das laufende Jahr. Das zeigt mal wieder sehr schön, dass sich die digitale von der klassischen Wirtschaft zu einem gewissen Grad entkoppeln kann – eine eigene Dynamik hat. Gleichzeitig wird die digitale Wirtschaft aber auch unter den Rahmenbedingungen und dem schwachen Wirtschaftswachstum in Europa leiden.
ADZINE: Ist Corona inzwischen verdaut?
Rasner: Wir mussten und müssen mehrfache Schocks verdauen, nicht nur Corona. Die Lieferkettenproblematik ist nicht zu unterschätzen und hat insbesondere handelslastige Wirtschaftszweige getroffen. Wir haben den unsäglichen Krieg in der Ukraine und jetzt die Situation im Nahen Osten. Im politischen Umfeld fehlt Stabilität, Verlässlichkeit und Zukunftsorientierung. Da kann sich auch die digitale Wirtschaft nicht entziehen. Die deutsche Volkswirtschaft wurde in den vergangenen Jahren mit 800 bis 900 Milliarden Euro belastet. Das muss man sich immer wieder bewusst machen.
ADZINE: Umso schöner, dass eure Prognose noch einigermaßen rosig aussieht.
Rasner: Richtig. Das demonstriert die Robustheit der digitalen Wirtschaft, um die vorhandenen Wachstumspotenziale und die Innovationsmöglichkeiten zu nutzen, die tatsächlich auch Geschäft generieren.
ADZINE: Dabei drängen gerade in der digitalen Wirtschaft viele US-Riesen und auch chinesische Player auf den heimischen Markt, um sich ein Stück vom digitalen Kuchen zu sichern, der so schön wächst. Welche Chancen haben die lokalen Player, um sich stärker zu positionieren und mehr von diesem digitalen Wachstum für sich zu beanspruchen?
Rasner: Ich glaube nicht, dass es uns hilft, wenn wir über die Marktstärke der großen Player lamentieren und einen absolutistischen Protektionismus herbeiwünschen. Vielmehr sehe ich in zwei großen Bereichen Chancen für die digitale Wirtschaft. Der eine ist Kollaboration, der andere Innovation. Beide sind Teil unserer deutschen DNA. Wir sind in Nischen und Spezialbereichen besonders stark und wir sind vor allem Anwendungsweltmeister.
Beispielsweise glaube ich nicht daran, dass es zukünftig mehrere bedeutende Large Language Models aus Deutschland geben wird. An der Stelle ist Aleph Alpha eine rühmliche Ausnahme. Unsere Stärke liegt darin, auf Basis dieser LLMs Anwendungen zu schaffen. Da sehen wir bereits prämierte und spannende Lösungen von Mutabor über Denkwerk und Jung von Matt bis Cogniwerk. Das Ziel ist, Plattformen und Technologien sinnvoll einzusetzen, zu nutzen und zu kollaborieren.
ADZINE: Wie kann das konkret aussehen?
Rasner: Lass mich das an einem Beispiel aus der Vergangenheit verdeutlichen. Nehmen wir den Kühlschrank, der in den 1930er-Jahren in den USA erfunden wurde. Die großen Profiteure waren am Ende Firmen wie Coca-Cola, die ihn als Plattform genutzt haben, um gekühlte Produkte zu distribuieren. Den Konsumenten in den Mittelpunkt zu stellen und nutzerzentrierte Lösungen zu erarbeiten, hat auch Deutschland schon immer ausgezeichnet. Das ist unsere große Stärke.
Kollaboration sieht man beispielsweise bei Aleph Alpha. In Heidelberg fördert eine Allianz von klassischen deutschen Unternehmen wie Bosch, der Schwarz-Gruppe sowie SAP diese Zukunftstechnologie und investiert eine halbe Milliarde Euro. Hinzu kommt eine starke Forschungsinfrastruktur vor Ort. Gerade im KI-Bereich sind die Wissenschafts-Wirtschafts-Kollaborationen in Zukunft entscheidend.
Aber es kommen noch ganz andere Themen wie Quantencomputing auf uns zu. Das betrifft auch die Frage, wie wir mit Daten umgehen. Wir brauchen robuste, nachhaltige Zukunftsstrategien dafür und müssen diese Aufgaben nicht nur als Wirtschaft, sondern als Gesellschaft annehmen. Wir sollten diese Entwicklungen nicht zuallererst als Risiko, sondern als Chance und Wachstumsmöglichkeit begreifen. Denn gerade die großen Industrien wie die Automobilindustrie, Pharmaindustrie oder der Maschinenbau müssen hochgradig in diesen Technologien erfolgreich sein. Große Teile unserer Bevölkerung und unserer Volkswirtschaft sind noch immer davon abhängig.
ADZINE: Die Wachstumstreiber der Digitalwerbung lauten seit vielen Jahren Programmatic und Video. Siehst du abseits davon noch Bereiche, die jetzt gerade die Werbewirtschaft ankurbeln können?
Rasner: Es kommen jetzt die Monate und Jahre, in denen sich die noch sehr junge Gattung Retail Media behaupten werden muss. Programmatic und Video werden weiterhin Wachstumstreiber bleiben, aber mit Retail Media haben wir einen Bereich, der sich noch sehr stark entwickeln kann.
Abgesehen davon ist das dominierende Thema natürlich Künstliche Intelligenz. Hier ist aber ein Realitätscheck nötig, um zu prüfen, wie sich dies in die Geschäftsmodelle und Produkte übertragen lässt. KI ist kein Spielzeug und wird viele Geschäftsmodelle disruptieren. Auch die alltäglichen Arbeitsprozesse werden sich verändern. In unserem Bereich wird die KI unter anderem in die Produktion von Assets, Content-Erstellung und Ausspielung eingreifen. Und dann stellt sich die Frage, wie die Zukunft von Search, von SEO und SEA, aussieht, wenn die KI nur eine Antwort liefert.
ADZINE: Welche Chancen ergeben sich für euch als Verband, wenn wir ein Wachstumsfeld wie KI vor uns haben?
Rasner: Vor allem uns zu öffnen. KI ist ein hochgradig komplexes, hochtechnologisches Thema, das sehr viele Impulse von außen braucht. In Deutschland gibt es sehr spannende Cluster, mit denen man in den Dialog treten und von denen man auch lernen kann. Diese Impulse geben wir dann letztlich als Verband in die digitale Wirtschaft.
Wir haben in diesem Jahr damit begonnen, neue Formate zu definieren, um speziell den interdisziplinären Austausch voranzutreiben. Wir müssen es schaffen, aus dem Silodenken herauszukommen. Menschen, die sich mit Programmatic beschäftigen, habe nun mal einen starken Fokus auf Programmatic. Dabei sind auch andere Themen und Entwicklungen für sie als Marktteilnehmer essenziell.
ADZINE: Welche Themen sind das? Und welche Bereiche habt ihr über KI hinaus identifiziert, die ihr 2025 und in den kommenden Jahren verstärkt angehen wollt?
Rasner: Entlang unserer drei Schwerpunkte Daten, Kreativität und Verantwortung haben sich in den vergangenen Jahren einige Themen angehäuft. Im Bereich Verantwortung beschäftigt uns Nachhaltigkeit als Verband stark. Wir haben als digitale Wirtschaft die große Aufgabe sicherzustellen, dass wir nicht nur mit dem Blick auf die CO2-Emissionen, sondern auch im Hinblick auf soziale und politische Effekte gut aufgestellt sind und nachhaltige Produkte in den Markt bringen. Im Bereich Kreativität geht es neben Retail Media auch um den Stellenwert der Digitalagenturen, die verstärkt technologiegetrieben sind und sich als Beratungen für innovative Geschäftsmodelle positionieren. Daten sind für uns ein Langläufer und Kern des BVDW. Digitale Geschäftsmodelle fußen alle auf Daten. Unser übergeordnetes Ziel ist es, ein positiveres Narrativ zur Nutzung und dem Nutzen von Daten zu schaffen.
Ein anderer Aspekt sind unsere Highlight-Events. In diesem Jahr fand das zehnjährige Jubiläum des Deutschen Digital Awards statt. Wir beschäftigen uns mit der Fragestellung, wie sich Kreativität in Zukunft definiert, gerade im Kontext einer Welt, in der sich künstliche Intelligenz sehr stark etabliert. Außerdem werden wir mit der DMEXCO natürlich dieses Jahr wieder neue Akzente setzen. Ich denke, da sind wir auf einem sehr guten Weg. Es ist unsere Bühne und es sind unsere zwei Tage, in denen wir zeigen, wie leistungsfähig die digitale Wirtschaft ist.
ADZINE: Wir freuen uns schon auf das Event – danke für das Gespräch!
EVENT-TIPP ADZINE Live - Industry Preview - Media & Tech Agenda 2025 am 22. Januar 2025, 11:00 Uhr - 12:30 Uhr
Welche Themen sollten Advertiser und ihre Agenturen, aber auch die Medien, ganz oben auf der Agenda haben für 2025? Welche Technologien werden bei den großen Herausforderungen, wie z.B. Datenschutz, Addressability, Qualitätssicherung, Messbarkeit und Einkaufseffizienz im digitalen Mediabusiness 2025 eine wichtige Rolle spielen? Jetzt anmelden!