Die Marktforschung gilt seit jeher als probates Mittel, mit dem Advertiser und Medienplaner Einblicke in ihre Zielgruppen gewinnen können. Angesichts der zunehmend fragmentierten Medienlandschaft und auch des sich wandelnden -konsums scheinen jedoch die bislang bewährten Methoden dieser Disziplin an Boden zu verlieren. Einige Player, wie auch das polnische Gemius, versuchen an der Stelle eine Lücke zu schließen und mit technologischer Hilfe Audience-Daten für die Planung bereitzustellen. Jakub Wysoczanski, Chief Finance und Global Sales Officer der Gemius Group sowie CEO der Gemius GmbH und von Gemius Polska, feilt seit 2006 an modernen Ansätzen für die Marktforschung und ist Spezialist für medienübergreifende Werbung. Der Mathematiker und Ökonom spricht im Interview darüber, wie sich die Marktforschung im Laufe der Zeit verändert hat, welche Methoden heute Sinn ergeben und wie sich Gemius hierzulande gegen die Konkurrenz durchsetzen möchte.
ADZINE: Jakub, du bist seit fast zwanzig Jahren bei Gemius. Wie und warum bist du damals bei Gemius eingestiegen?
Jakub Wysoczanski: Zu Beginn des Jahrtausends kam der Durchbruch des Internets. Das globale Netzwerk schien ein Ozean der unendlichen Möglichkeiten zu sein. Nur wenige globale Akteure und eine begrenzte Anzahl von Nutzern, aber mit einem riesigen Potenzial, viel Nachfrage und wenig Rückendeckung für Innovationen. Es war aufregend, in diese neue Welt einzutauchen und einen kleinen Beitrag zu ihrer Entstehung zu leisten. Das war der Hauptgrund für mich, bei Gemius einzusteigen, das zu dieser Zeit einen neuen Ansatz entwickelte, um die Internetgesellschaft zu verstehen. Ob er monetarisierbar sein würde, war nicht abzusehen. Aber Leidenschaft und Abenteuerlust war durchaus vorhanden.
ADZINE: Wie hat sich die Marktforschung seither entwickelt?
Wysoczanski: Der Medienkonsum wird immer facettenreicher und umfasst zunehmend verschiedene Gruppen von Menschen. Vor 25 Jahren war das Internet ein Spielzeug für 20- bis 40-jährige IT’ler. Heute haben wir sowohl Silver Surfer als auch Kinder in allen ethnischen Gruppen. Jeder von ihnen konsumiert die Medien völlig unterschiedlich. Die Geschwindigkeit, die Mobile mit sich bringt, machen alte Methoden, die sich auf stationäre Messungen stützen, unzuverlässig. Ich glaube, dass wir dem Verbraucher nicht nur in der digitalen Welt, sondern auch im physischen Raum folgen müssen. Dies führt uns zu einem wichtigen Thema für alle Marktteilnehmer: dem Medienkonsum außerhalb der eigenen vier Wände und in den Walled Gardens wie Youtube, Meta oder Tiktok.
Daher haben wir 2018 eine Single-Source-Messung eingeführt, die auf einem speziellen Panel mit Hardware basiert, die es uns ermöglicht, das Verhalten der Verbraucher – und ihre GPS-Position – im echten Leben zu erfassen. Seitdem liefern wir Daten über den Medienkonsum im Fernsehen, im Internet und im Radio sowie über Werbekontakte und -exposition – auch aus Ökosystemen wie Youtube, Meta oder Tiktok. Meiner Meinung nach wird sich der Markt mit unserer neuen Definition von Fernsehen auseinandersetzen müssen, also VOD, Connected TV (CTV) und HbbTV, die das traditionelle “lineare” Fernsehen ablösen werden. Ich möchte durchaus anmerken, dass sich Gemius seit 2020 auch auf den deutschen Markt konzentriert, in dem all diese Trends sichtbar sind.
ADZINE: Die bestehende Medienlandschaft ist komplex und extrem fragmentiert. Verschärfte Datenschutzrichtlinien machen es schwerer, ein einheitliches Bild von den Nutzern zu bekommen. Wie schaffen es Advertiser oder ihre Mediaplaner trotzdem, Einblicke in ihre Zielgruppen zu erhalten?
Wysoczanski: Das stimmt – jedem Mensch steht jetzt eine große Auswahl an Medien und Werkzeugen zur Verfügung, um Inhalte konsumieren. Verschiedene Mobiltelefone, Fernseher oder neu entwickelte Geräte wie Brillen, die sicherlich bald auf den Markt kommen werden – alles ist und wird eine Herausforderung für die Marktteilnehmer sein. Daher ist es umso wichtiger, nicht nur die Marketingbotschaft wie die Werbung selbst zu betrachten, sondern auch das Umfeld – also den Inhalt.
Unabhängig von den Veränderungen in der Welt ist es der Inhalt, der die Nutzer zu einem bestimmten Kanal hinzieht. Meiner Meinung nach ist das Verständnis des Zusammenhangs zwischen den Inhalten und ihrem Marketingpotenzial von entscheidender Bedeutung, um seine gewünschte Zielgruppe zu erreichen. Es wird sogar noch wichtiger, wenn wir nicht nur über die Reichweite selbst sprechen, sondern auch über den Aufbau einer engeren Beziehung zu einem Kunden. Dies ist besonders wichtig für Marken, die auf Lifestyle-Marketing setzen und ihre Produkte mit Aktivitäten, positiven Emotionen und Wohlbefinden aufladen.
Ich denke, dass die Messung der fragmentierten Medienlandschaft durch eine einzige Quelle – den Empfänger dieser Informationen – ersetzt werden kann. Wenn wir sie aus dem Blickwinkel eines einzelnen Menschen analysieren, bilden die Fragmente eine einheitliche Landschaft. Ich gehe davon aus, dass der Markt bald nicht mehr in der Lage sein wird, mehrere Plattformen getrennt voneinander zu analysieren. Selbst die statistische Aggregation dieser Plattformen erscheint mir wie ein Provisorium – der hoffnungslose Versuch, alte Methoden in einer neuen Welt anzuwenden.
ADZINE: Was wollen Advertiser oder ihre Mediaplaner in der Regel über ihre Zielgruppen wissen?
Wysoczanski: Nun, hier gibt es zwei Ansätze. Der traditionelle Ansatz besteht darin, die effizienteste Media und den effizientesten Kanalmix zu finden, um die Reichweite und die Wirkung der Werbeausgaben des Werbetreibenden zu maximieren. Abgesehen davon möchten sie Werbekampagnen im digitalen und linearen TV ganzheitlich messen, um zu verstehen, wie digitale und lineare Kanäle optimal zusammenarbeiten.
Das findet sich alles in unseren Forschungsergebnissen, aber darüber hinaus müssen Marken langfristige Beziehungen aufbauen – um ihre Kunden so lange wie möglich an sich zu binden. Hauptsächlich, um sie robuster gegenüber den Botschaften des Wettbewerbs oder die Veränderungen des eigenen Geschmacks zu machen, die mit Sicherheit irgendwann auftreten. Wie bereits erwähnt, wird es immer wichtiger, die Zusammenhänge zwischen den Medien und dem Verhalten der Menschen zu verstehen. Und dafür braucht man tiefere Einblicke in die Reise eines einzelnen Menschen. Daher sind wir auch an Projekten beteiligt, die diesen Zusammenhang durch verschiedene zusätzliche Insights, zu denen, die wir über unsere Panelisten sammeln, beleuchten.
ADZINE: Wie werden aus den Einblicken, die ihr liefert, demographische Profile, die fürs Advertising benutzt werden können?
Wysoczanski: Wir liefern crossmediale Messlösungen, die sowohl den Medienkonsum als auch die Ad Exposure nach der Kampagne abdecken. Alle KPIs und Insights, die auf den Daten unserer Produkte basieren, ermöglichen es den Mediaexperten, ihre Strategien und Pläne auf die Bedürfnisse der Kunden auszurichten. Gleichzeitig führen wir viele Ad-hoc-Studien durch, das bedeutet, dass wir tief reingehen in Nutzerprofilierung, Brand Tracking, Post-View-Messungen und so weiter.
Kurz gesagt, wir liefern eine vollständige Cross-Media-Forschung, die auf einem Single-Source-Panel basiert – wir verbinden lineares TV, Connected TV, Desktop und Mobile, einschließlich der Walled Gardens. Dies ist besonders interessant für die Analyse von Post-Buy-Effekten einer Kampagne.
ADZINE: Wie schaffen es die Advertiser, ihre eigenen Daten damit zu verknüpfen?
Wysoczanski: Oh, ich liebe diese Frage, denn zielt auf das Herz der Gemius-Methodik ab. Im Jahr 2002 starteten wir das weltweit erste Audience Measurement, das Paneldaten mit Echtzeitdaten von Websites kombinierte. Damals gehörte Gemius zu den zehn größten Datenverarbeitern der Welt. Wir haben jede Sekunde über 120.000 Treffer mit unserer proprietären Data Storage Cloud und unserem parallelen Berechnungsmodul verarbeitet und berechnet.
Wir sind also durchaus in der Lage, die Daten von Publishern und Walled Gardens zu kombinieren, um Werbetreibenden im Bedarfsfall eine möglichst präzise Antwort zu liefern. Aus diesem Grund sind wir eine Partnerschaft mit Google in Deutschland eingegangen, und ich muss sagen, dass die präzisen Ergebnisse meine – normalerweise extrem hohen – Erwartungen übertrifft.
Gleichzeitig handelt es sich bei den vom Gemius-Panel gesammelten Daten um eine nutzerzentrierte und Tag-lose Messung, die den gesamten Markt abdeckt. Sie ist DSGVO-konform und zukunftssicher, da sie keine Daten aus Third-Party-Cookies benötigt.
ADZINE: In Deutschland sind bereits Anbieter mit eigenen Panels aktiv, unter anderem die alt-eingesessene AGF Videoforschung. Wie wollt ihr euch hierzulande dagegen behaupten? Was macht ihr anders?
Wysoczanski: Im deutschen Markt existieren wertvolle Forschungsunternehmen und gut gepflegte Panels. Ich würde lieber gemeinsam überlegen, wie wir etwas mehr für Werbetreibende, Agenturen und Publisher herausholen können – wie wir nicht nur ihren Anteil, sondern den gesamten Marktumsatz steigern können.
Unser Traum ist es daher, gute und fruchtbare Bereiche für die Zusammenarbeit oder Kombination der Panels zu finden, um dem Markt einen zusätzlichen Nutzen zu stiften. Ich würde zu einer Zusammenarbeit auf der Ebene der Panels und der Datenerfassung tendieren, aber ich bin auch offen dafür, andere Forschungen mit unseren Daten zu unterstützen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir nicht hier sind, um zu konkurrieren, sondern um dem gesamten Markt, einschließlich der AGF, zusätzliche Vorteile zu bieten.
ADZINE: Mehr Kanäle und fragmentierte User Journeys müssten für Innovation aufseiten der Messdienstleister sorgen. Ist das der Fall? Siehst du mehr Innovation auf deinem Sektor?
Wysoczanski: Ich liebe auch diese Frage, da sie das ganze Interview einrahmt, indem sie eine Verbindung zu der ersten Frage herstellt! Wie ich eingangs sagte – im Jahr 2000 sah ich das Internet als einen unendlichen Ozean von Möglichkeiten. Ein Vierteljahrhundert später stehen wir vor einem ähnlichen Wandel. Das Internet war keine “Brancheninnovation” – es war die ganze neue Welt. Jetzt ist das Internet nur noch ein Medium – wie vor über 100 Jahren die Radiowellen. Die Kanäle und die fragmentierte Welt, nach denen du gefragt hast, sind die neue Welt.
Anstatt also über Innovationen nachzudenken, betrachte ich dies lieber als eine neue Ära, von der jeder in der Branche profitieren kann. Und ja, ich sehe eine Menge Unternehmen, die Dinge tun, von denen wir in der Vergangenheit nur träumen konnten. Und wie vor 20 Jahren bin ich hier bei Gemius, um an der Entstehung dieser neuen Welt mitzuwirken.
ADZINE: Danke für das Interview, Jakub!
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