Kontextuelle Werbung kennen viele Werbetreibende und Publisher noch aus der Umfeldplanung. Doch heute ist sie mitnichten zu vergleichen mit dem Verständnis von Contextual, das vor dem Aufkommen der verhaltensbasierten Zielgruppenansprache üblich war. Die Künstliche Intelligenz spielt in der jüngsten Vergangenheit eine entscheidende Rolle bei der Weiterentwicklung und revolutioniert die Contextual-Logiken. Mit dem Abschied vom Third-Party-Cookie gilt kontextuelle – oder heutzutage vielmehr semantische – Werbung vielerorts gar als eine der großen Säulen der künftigen Zielgruppenansprache. Doch wie schaffen es die Anbieter heute, all die unterschiedlichen Umgebungen, die sich aus den verschiedensten Kanälen und Geräten ergeben, zu klassifizieren? Und wie viel Raum für Innovation bietet diese Disziplin noch? ADZINE hat sich unter Anbietern, Agenturen und Publishern umgehört, um den Status quo und die Zukunft des Contextual Targeting zu ergründen.
Wurden zu den Anfängen der kontextuellen Werbung noch Anzeigen eines Kreuzfahrt-Anbieters bei einem Reiseportal platziert, locken heute Adtech-Anbieter mit ausgeklügelten und lernenden Systemen, die weit darüber hinausgehen. “Contextual Targeting findet die geeigneten Reisethemen nicht nur auf Reiseportalen”, weiß Michael Zeisler, Director Sales Programmatic des Targeting-Anbieters Nano Interactive. “Denkbar wäre eine Werbeplatzierung eines Kreuzfahrt-Anbieters auf einer Webseite, die sich ausschließlich mit nachhaltigen Themen für Konsument:innen beschäftigt – insofern dieser Anbieter sich glaubwürdig für nachhaltiges Reisen engagiert und beispielsweise seinen CO2-Fußabdruck ausgleicht oder dabei ist, sein Business ökologisch zu transformieren”, erklärt Zeisler.
Auch in der Agenturwelt wird die Disziplin geschätzt. “Zielgruppen über Contextual Advertising anzusprechen ist eine herausragende Chance, um relevanteren Content zu kreieren und unter Einsatz der entsprechenden Technologie eine Effizienzsteigerung zu erreichen”, steckt Ellinor Klier, Head of Biddable von Media Havas, den Rahmen ab. Doch nicht alle Contextual-Lösungen sind als gleichwertig einzuschätzen, schließt die Mediaexpertin daran an. “Es besteht eine große Chance darin, tiefer liegende Signale als nur reinen Text zu analysieren, wie Bilder, Videos, Audio und andere Metadaten. Somit kann eine breitere Zielgruppe durch vielfältige Kanäle erreicht werden, beispielsweise durch CTV oder Gaming”, so Klier weiter.
Innovative Ansätze in der Contextual-Landschaft – auch für die Vermarktung
“Contextual-Targeting-Technologie ist genauso Data Targeting, wie es Behavioral Audience Targeting in jeder Form auch war und ist. Das heißt, es muss weit über eine URL-Liste und das Auslesen von semantischen Keywords auf einer Web-Präsenz hinausgehen”, bestätigt Jörg Schneider, VP Global Sales Operations beim Contextual-Anbieter Gum Gum, Kliers Aussage.
Die Lösungen der US-Amerikaner liest demzufolge nicht nur den Text einer Seite aus, sondern analysiert wie von Klier angedeutet auch alle Bilder, Videos und Tonspuren auf einer Online-Präsenz. Für die Klassifizierung von Bewegtbild vertraut die Technologie nicht auf die Metadaten der Inhalte. Sie analysiert “Frame für Frame und Pixel für Pixel” der Videos, betont Schneider, auch im CTV. Die hauseigene Künstliche Intelligenz, die seit 14 Jahren lernt, ordnet Haupt- und Nebenthemen ein, erkennt das Sentiment des Contents – ob negativ, neutral oder positiv – und wandelt dies in ein entsprechendes Targeting um. Die Daten würden auch Publishern dabei helfen, ihren Content besser zu vermarkten, und Unternehmen, die Wahrnehmung ihrer Marke im Netz zu ergründen. “Die Anwendungsfelder gehen weit über ein Targeting zu Werbezwecken hinaus”, sagt Schneider.
Das ist Wasser auf die Mühlen von Abdelkader Barjiji, SVP Management Programmatic & Data bei Ströer Media Solutions. Mit der OS Data Solutions hat der Vermarkter einen eigenen Contextual-Spezialisten im Haus, der unter anderem bei der Vermarktung der Inventare unterstützt. “Durch den vollen Zugriff auf die KI-Systeme sind wir in der Lage, diese speziell für unsere Anwendungsfälle zu trainieren und erzielen bestmögliche Ergebnisse in puncto Trefferquoten und Reichweite”, sagt Barjiji. “Wir sind nicht nur in der Lage Channels oder IAB-Kategorien zu identifizieren, sondern auch einzelne Keywords, um diese für das Targeting verfügbar zu machen.” Durch die Nutzung innovativer AI-Technologien sei es heute für Ströer ebenso bereits möglich, auf Basis von Kontextinformationen ein Targeting jenseits klassischer Kategorien wie Themen und Keywords anzubieten, und etwa soziodemographisches Targeting zu ermöglichen.
KI in der Hauptrolle
Ein europäischer Wettbewerber von Gum Gum im Contextual-Business tritt in Gestalt von Seedtag auf. Die Spanier bieten wie die Amerikaner Media und Daten in Paketen feil, die mithilfe einer KI geschnürt werden. Dabei pocht Seedtag auf ein “menschenähnliches Verständnis” seiner Lösung, die seit einem Jahrzehnt lernt, wie sie am besten “Zielgruppenbeschreibungen in spezifisch-kontextuelle Segmente” verwandelt. Auch wahrscheinlichkeitsbasierte soziodemografische Modelle sollen das Zielgruppen-Targeting in Echtzeit verfeinern.
Die Madrilenen haben derweil ihre kontextuelle Intelligenz um eine generative KI erweitert. Im Klartext bedeutet dies, dass sich zum Kontext passende Werbemittel von der Maschine gleich mit erstellen lassen. Ein einfaches Beispiel: Für den Familienvater wirbt die Automarke mit einem Eigenheim und Schaukel im Hintergrund. Die Geschäftsfrau bekommt den neuen Wagen mit einer Kulisse aus der Frankfurter Skyline präsentiert. “So lassen sich kontextbezogene Werbemittel designen, die die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen sowie die Sichtbarkeit der Anzeigen maximieren”, erklärt Nicolas Poppitz, DACH-Chef von Seedtag.
Neben den beiden Werbeplattformen Seedtag und Gum Gum existieren weitere Kontext-Spezialisten, die Advertisern ihre Datenexpertise KI-gestützt zur Verfügung stellen. Dazu gehört das französische Adtech-Unternehmen Qwarry, das 2018 gegründet wurde. Die Pariser haben sich auf die Fahne geschrieben, die Zielgruppe der Werbetreibenden zu erweitern. So sollen sie 100 Prozent ihrer Zielgruppe erreichen, ohne auf Cookies oder persönliche Daten der Nutzer:innen zurückzugreifen. Dafür verbindet die Lösung “menschliche Intelligenz mit den richtigen technischen Tools”.
“Mehr als 2 Milliarden Artikel werden in Echtzeit anhand der 400 vordefinierten semantischen Modelle von Qwarry klassifiziert”, erklärt Julie Walther, COO und Mitgründerin des Unternehmens. Die eigene semantische Analysetechnologie berechnet dann darüber hinaus den optimalen Zeitpunkt, um die Werbebotschaft auszuliefern – Stichwort Attention. “Nach der Analyse erstellen die Teams von Qwarry spezielle Reportings für Werbetreibende, Werbeagenturen und Verlage, um sie bei der Optimierung ihrer Kampagnen zu beraten”, so Walther weiter. “Diese Empfehlungen konzentrieren sich auf das Format und die Werbeunterstützung, die auf der Grundlage der Ziele, der Abschlussraten und der Sichtbarkeit der Kampagne zu priorisieren sind.”
Auch deutsche Anbieter mischen auf dem Contextual-Markt mit. Darunter das Münchner Nano Interactive, das sich als “komplett ID-frei” positioniert. Innovation findet sich laut Michael Zeisler in verschiedenen Ansätzen. “Ein solcher Ansatz ist das Erkennen der ‘Stimmung’ einer Seite, basierend auf spezifischen Elementen wie zum Beispiel Brands, Personen oder Unterthemen, über die berichtet wird”, sagt Zeisler. “Die auf Machine Learning gestützte Analyse von Live-Intent-Signalen, die in Real Time zur Kampagnenoptimierung genutzt wird, ist ein weiterer USP”. Eine Google-Suche im Voraus könnte beispielsweise so ein “Intent-Signal” darstellen. Dabei lässt sich mithilfe von Prebid anhand dieser Signale die Wahrscheinlichkeit berechnen, ob der Ad Request erfolgversprechend für die festgelegten Kampagnen-KPIs ist. Die Technologie könne das Bietverhalten daran ausrichten, erklärt Zeisler.
Die semantischen Analysen werden zudem teils auch um Panel-Befragungen ergänzt, um daraus Zielgruppen abzuleiten. "Intent-Personas", nennt Nano Interactive das Ergebnis, das Stereotypen oder Vorurteile eliminieren und qualifiziertes Segmentieren möglich machen soll.
Darf es noch ein bisschen mehr Kontext sein?
Innovation findet sich also an allen Ecken der kontextuellen Werbung. Doch das ist noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. “Neueste Entwicklungen in der Technologie zeigen, dass Contextual Advertising neue Möglichkeiten eröffnet, um aktivierende Werbemittel und neue Messmethoden im Bereich ‘Attention’ miteinander zu kombinieren”, sagt Ellinor Klier von Havas. “In einer von Medien gesättigten Welt ist es Realität, dass Menschen ermüdet und beinahe blind für Werbung sind.” Der Fokus auf die Aufmerksamkeit als Metrik scheint eines der erfolgversprechendsten Mittel zu sein, um Werbung in einer sinnstiftenden Art und Weise an Konsumentinnen und Konsumenten zu bringen, so Klier. Ein tiefes Verständnis für Kontext, Kreation und Attention und wie diese drei Komponenten miteinander interagieren, ermögliche Marken beste Chancen, eine integrierte und konsistente Customer Journey zu schaffen.
Bei Seedtag sieht man das Innovationspotenzial vor allem in den Signalen, um die KI zu füttern: bei der “Verwendung neuartiger Input-Signale für kontextbezogene KI und der Optimierung der KI-Modelle, die bereits verwendet werden”, sagt Pablo Martínez, Group Product Manager bei Seedtag. “Zukünftig werden Stimmung und Atmosphäre sowie die Aufnahmefähigkeit der Nutzer:innen weitere Signale sein, die der Zielgruppenansprache des Contextual Advertisings dienen.” Darüber hinaus werden die Prozesse immer schneller. “Was früher Tage benötigte, passiert in Zukunft in Echtzeit”, prognostiziert Martínez.
Auf die Verarbeitung der Signale in Echtzeit weist auch sein Branchenkollege Michael Zeisler hin: “Um den Kampagnenerfolg sicherzustellen, ist die Echtzeitanalyse zur individuellen Optimierung von Kampagnen unerlässlich”. Doch er kritisiert darüber hinaus die derzeit häufig noch fehlende Treffsicherheit der Technologien. “Viele Lösungen erfassen zudem die Stimmung eines Inhalts noch nicht präzise. Dies führt immer wieder zu Anzeigenplatzierungen in Umfeldern, die zwar thematisch passen, aber nicht den richtigen Kontext bieten. Ein plakatives Beispiel: Das Angebot eines Ballermann-Trips erscheint als Werbung, auch wenn die User einen entspannten Urlaub auf Mallorca im Sinn hatten.” Da ist also noch Luft nach oben.
Für Qwarry steht granulare Personalisierung im Vordergrund. “Ein Schlüsselbereich ist die Hyper-Personalisierung. Während kontextbezogenes Targeting wertvoll ist, bewegen wir uns mit auf semantischer Analyse basierender Technologie in Richtung hyper-personalisierte Werbung”, meint Julie Walther. Markensicherheit sei ebenfalls ein Thema für die Zukunft. “Zukünftige Innovationen liegen auch im Schutz der Privatsphäre der Nutzer und in der Einhaltung sich entwickelnder Vorschriften wie der GDPR, um transparente und die Privatsphäre respektierende Werbung zu gewährleisten.”
Contextual Targeting ist demnach alles andere als durchgespielt. Die Zukunft sieht rosig aus, wenn man die Anbieter fragt. “Wir stehen noch am Anfang, die Möglichkeiten auszuloten, denn die Contextual-Insights, die wir täglich gewinnen, sind fast grenzenlos”, schwärmt Jörg Schneider von Gum Gum.
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