Die Landschaft für Bewegtbildwerbung befindet sich im konstanten Wandel. Bestand sie einst nur aus dem linearen TV, das seine Werbeinseln häppchenweise servierte, müssen Advertiser heute eine Vielzahl an Kanälen, Plattformen und Geräten bespielen, um ihre Zielgruppen zu erreichen. Mit dem Connected TV (CTV) kommt abermals ein junger, fragmentierter und unübersichtlicher Markt hinzu, in dem unterschiedlichste Interessen kollidieren und kaum Standards vorhanden sind. Christian Nienaber, Chief Commercial Officer von All Eyes On Screens (ehemals Adscanner), wirft im Interview einen Blick auf die Transformation der TV-Welt, erklärt, womit das klassische, lineare Fernsehen zu kämpfen hat und wie der Markt auf einen gemeinsamen Nenner kommen könnte. Der Wirtschaftswissenschaftler hat jahrelang bei RTL gearbeitet und brachte das Video-on-Demand-Angebot Now, heute RTL+, auf die Straße. Später war Nienaber Leiter des Digitalbereichs sowie Mitglied der Geschäftsleitung von RTL II – er kennt also sowohl die alte als auch die neue TV-Welt.
ADZINE: Hallo Christian, wie steht es um das heutige lineare Fernsehen?
Christian Nienaber: Wenn man das klassische, lineare Fernsehen als Produkt betrachtet, steht dieses im Produktlebenszyklus leider schon in der Phase des “Rückgangs”. Dies ist sowohl produktseitig wie – in gewisser Weise daraus folgend – gesellschaftlich begründet: Produktseitig sind Angebotsformen wie Video-on-Demand oder Connected TV beziehungsweise Fast Channel dem linearen TV überlegen, da sie den Konsumenten mehr Flexibilität bieten. Gesellschaftlich ist es so, dass diese neuen Formen der Distribution die immer größere Interessenvielfalt viel besser bedienen können. Ein junger Mensch, der heute Tiktok nutzt, nutzt ja auch Bewegtbildinhalte, die gar nicht so anders sind als das Fernsehen, wie es die älteren Generationen kennen. Nur nutzt er es in viel kürzeren Formaten, algorithmisch perfekt auf ihn zugeschnitten. Dies kann das klassische Fernsehen weder technisch noch inhaltlich bieten.
Zwar wurde richtigerweise jahrelang versucht, immer neue, innovative Formate für das TV-Programm zu entwickeln, doch die letzte große Innovation – meiner Meinung nach “The Masked Singer” – geht nun auch schon in seine neunte Staffel. Um die Menschen glücklich zu machen, die noch da sind und “mitaltern”, bringen TV-Sender derzeit vor allem Formate, die diese Menschen noch aus ihrer Jugend kennen. Vom Glücksrad bis Barbara Salesch werden Erfolgsformate wiederbelebt. Der absoluten Reichweite hilft dies aber natürlich nicht mehr, es gibt einfach weniger Menschen, die klassisch fernsehen. Insbesondere junge Menschen schauen, wenn überhaupt, sehr selektiv. Wichtig für die Sendergruppen ist jetzt also, sowohl neue Formatkonzepte für die eigenen Streaming- und VOD-Angebote zu etablieren, als auch darüber nachzudenken, wie die vorhandene Programmexpertise für andere Formatkonzepte jenseits der eigenen Plattformen eingesetzt werden kann – siehe Funk.
ADZINE: Rettung naht – zumindest für die Zuschauer. Denn die TV-Welt befindet sich im Umbruch und wird digital. Damit wird sie auch für das digitale Advertising erschlossen. Welche wegweisenden Entwicklungen siehst du aktuell in der deutschen TV-Werbelandschaft?
Nienaber: Nachdem die Distribution der TV-Inhalte schon einige Jahre vollständig digital erfolgt – was zu mehr Programmvielfalt als auch höherer Signalqualität führte – wird nun die Werbeausspielung ähnlich des digitalen Campaignings erfolgen. Die wichtigste Entwicklung für die klassischen Sender ist aktuell sicherlich die Dynamic Ad Insertion beziehungsweise das Ad Replacement.
Diese Ansätze bieten gerade den privaten werbefinanzierten Sendern sowie auch den OTT-Plattformen und Distributoren die Möglichkeit, Werbetreibenden personalisierte Werbung anbieten zu können. Diese Entwicklung wird von allen Seiten forciert, von den Sendern selbst allerdings nur “milde”, solange das bisherige Prinzip noch bessere Umsatzergebnisse garantiert. Streuverlust ist ja auch Streugewinn. Dahinter steckt natürlich ebenfalls die Sorge vor dem Preisdruck. Der TKP im Web ist durch die schiere Angebotsmasse ständig unter Druck. TV dagegen ist weiterhin ein Walled Garden mit sicheren Umfeldern, der die Preise entsprechend hoch ansetzen kann.
ADZINE: Was kann TV denn für Digital leisten?
Nienaber: TV kann immer noch am schnellsten Reichweite aufbauen, beispielsweise um einen Produktstart zu kommunizieren. Die Botschaft, dass eine neue Sorte Funny Frisch verfügbar ist, verbreitet sich rasend schnell via TV-Werbung – bei jung wie alt.
Ein anderer Punkt sind die schon erwähnten sicheren Umfelder. Im offenen Web, befeuert von zig DSP und Sub-Dienstleistern, kann oftmals niemand nachvollziehen, warum die Werbung auf manchen Seiten überhaupt auftaucht. Mit Sendern beziehungsweise dessen Vermarktern kann man dagegen in den Dialog gehen und es wird zudem sehr gut analysiert, wer das TV-Angebot nutzt.
Und schlussendlich würde ich Mediaagenturen wie Werbetreibenden unbedingt empfehlen, die bisherigen soziodemographischen Planungsansätze gegen eine interessenbasierte Planung zu tauschen: Es ergibt angesichts der heterogenen Interessensfelder absolut Sinn, zu prüfen, welche Formataffinitäten bei Menschen, die an meinem Produkt interessiert sind, bestehen. Über eine solche Umfeldplanung – basierend auf den Daten neuer Marktteilnehmer – ist eine Optimierung des eigentlich “ausoptimierten” Fernsehens weiterhin möglich, trotz sinkender absoluter Reichweiten.
ADZINE: Wie werden aus TV-Zuschauern Segmente fürs Advertising?
Nienaber: Die AGF setzt zum Beispiel auf ein klassisches TV-Panel. Panelbasierte Ansätze beinhalten den großen Vorteil, dass sehr “tief” in die Haushalte und deren Strukturen hineingeschaut werden kann. Im Endeffekt sind dies aber klassische soziodemographische Einblicke, die hochgerechnet werden. Themenfelder wie Kaufabsichten oder Markenpräferenzen spielen in der Befragung auch eine Rolle, aber durch die geringe Fallzahl sind diese schon mit Vorsicht für die Planung heranzuziehen. Darüber hinaus hilft eine geringe Fallzahl nicht, wenn es um die Analyse einer TV-Kampagne geht – inkrementelle Reichweitenzuwächse sind so kaum bewertbar. Hier hilft die Kombination mit großen Datensätzen, im Idealfall sogar aus unterschiedlichen Quellen.
Wenn man diese Daten zusammenbringt beziehungsweise über ein Data Modelling kombiniert und erweitert, können Marken ziemlich gutes Targeting betreiben und dabei die Reichweite von TV nutzen. Dies ist ein Thema, das wir in Zukunft bei der Planung von Kampagnen noch stärker in den Fokus rücken werden.
ADZINE: Wird das klassische TV somit zunehmend auch zum Performance-Werkzeug?
Nienaber: Ist es schon, das sieht man in den TV-Werbeblöcken. Der klassische Markenaufbau rückt immer mehr in den Hintergrund. In den Vordergrund rückt die Produktwerbung im Abverkauf, also Retail, vor allem E-Commerce. Die Werbekunden wollen wissen, welche TV-Slots die beste Conversion auf der Website oder in der App ausgelöst haben. Auch geht es um die Optimierung der Nettoreichweite, um bestehende Nutzer über TV zu reaktivieren, aber ebenso über die Reichweite neue User zu finden, die beispielsweise eine App herunterladen sollen.
ADZINE: Mit Connected TV und seiner fragmentierten Anbieterlandschaft wird der Bewegtbildmarkt noch unübersichtlicher. Es herrscht ein Überangebot an Content, aber auch an Kanälen für Bewegtbild insgesamt. Was hat das für Folgen fürs Advertising?
Nienaber: Es wird angesichts der zunehmenden technischen Komplexität in der Zuspielung immer aufwendiger, die weiterhin schrumpfende Menge an Menschen mit Bewegtbildinhalten zu erreichen. Früher gab es nur TV, dann kamen Facebook und Youtube dazu, später Instagram und Tiktok, aktuell sind auf dem Big Screen Fast- und CTV-Channels gewisse Hypethemen. So wird die Bewegtbildlandschaft immer vielfältiger, aber auch komplexer. Hier sehe ich nur geringe Bewegung hin zu neuen Standards, aber wir und andere arbeiten daran.
Außerdem müssen die Werbemittel angepasst werden, weil verschiedene Zielgruppen mit anderen Botschaften erreicht werden wollen. Das war früher der Vor- und Nachteil des linearen TV: Die Werbetreibenden haben dieselbe Botschaft an eine breite Masse gestreut, obwohl die Interessen teils sehr unterschiedlich waren. Heute können – und müssen – sie die Botschaften in verschiedenen Kanälen an unterschiedliche Zielgruppen streuen.
ADZINE: Was muss geschehen, damit es wieder einfacher wird?
Nienaber: Wir brauchen erstens einen Transparenzwillen bei den großen Plattformanbietern, das heißt die Bereitschaft, sich Standards anzuschließen und ihre Zahlen zu veröffentlichen – Kollaboration als Weg zum gemeinsamen Erfolg. Die neuen Anbieter müssten sich allesamt als Teil der TV-Landschaft begreifen, egal ob lokal oder global agierend.
Zweitens fehlt noch die Möglichkeit, um geräteübergreifend Nettoreichweiten zu validieren. Die Datenschutzanforderungen – die gut und notwendig sind – machen es nicht einfacher, aber Ansätze wie die von Utiq gehen in die richtige Richtung. Und ich bin der Meinung, dass sich die gesamte Agenturlandschaft auf einheitliche Spot-IDs einigen sollte, sodass anhand einer einzigen “DNA-Struktur” erkenntlich wird, welcher Spot, welche Kampagne wann und wo ausgespielt wird.
ADZINE: Wir drücken die Daumen, vielen Dank für das Interview!
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