Retail Media gilt derzeit als eines der stärksten Wachstumsfelder im Advertising. Dabei können verschiedene Marktteilnehmer komplett aneinander vorbeireden, wenn sie darüber diskutieren. Denn Begrifflichkeiten werden unterschiedlich interpretiert und der Markt ist fragmentiert. Standards fehlen häufig und vieles ist noch Handarbeit. Das Potenzial scheint jedoch groß, daher wird an diesen Themen eifrig gearbeitet. ADZINE hat mit unterschiedlichen Akteuren über ihr Verständnis von Retail Media gesprochen, um eine Bestandsaufnahme zu machen und einen Zukunftsausblick zu wagen.
„Transaktionsdaten lügen nicht“, sagt Nico Winkelhaus, Director Digital Marketing bei Payback. Die Bonussystem-Betreiber-Firma setzt seit über 20 Jahren auf Data-Driven-Advertising – anfangs primär über Printmailings, mittlerweile breit gefächert auf ihrer Multichannel-Marketing-Plattform mit der Payback-App als eine der reichweitenstärksten Shopping-Apps im Zentrum. Daten sind hier stets das Mittel zum Ziel, die Relevanz für den Endkunden – und damit auch für den Advertiser – zu steigern. „Irrelevante Retail-Media-Inhalte auf Commerce-Umfeldern können letztlich sogar schaden, wenn sie etwa die Conversion Rates senken, sprich – wenn sie den eigentlichen Abverkauf kannibalisieren und damit im Saldo negative Umsatzeffekte produzieren“, sagt Winkelhaus.
Der Vorteil im Payback-Ökosystem ist, dass das Unternehmen alle Nutzeraktionen quasi hinter einem Login hat – auch der Payback Swipe an der stationären Kasse ist letztlich eine Form des Logins. Dadurch kann das Unternehmen Daten – wie Offline- und Online-Transaktionen, Papier- und Digital-Coupon-Einlösung oder App-Nutzungsdaten – einem einzelnen Identifier zuordnen und darauf basierend Kampagnen präzise targeten und on top sehr genau bewerten.
In der Praxis kann dies dann zum Beispiel so aussehen, dass Bestandskunden der einen Marke einen 20-fach-Punkte-Coupon über die Payback-Plattform bekommen, Wettbewerbsmarkenkäufer einen 40-fach-Punkte-Coupon. Bei beiden Zielgruppen überprüft das Unternehmen jeweils mit strukturgleichen Kontrollgruppen, wie die inkrementellen Abverkaufseffekte der Kampagne waren. „Das ist Retail Media in Reinform – auf Basis harter Transaktionsdaten“, sagt Winkelhaus. So definiert man bei Payback Retail Media als Advertising in Commerce-Umfeldern oder Advertising rein auf Basis von Commerce-Daten. Commerce-Umfelder können Online wie Offline sein, beispielsweise ein Fashion-E-Commerce-Shop, ein Online-Reiseportal oder ein stationärer Lebensmittelhändler. Auf Basis der Commerce-Daten kann Werbung außerhalb der Commerce-Umfelder platziert werden – beispielsweise könnte man als Advertiser Käufer einer Wettbewerbs-Waschmittelmarke auf Facebook targeten.
Ein Begriff, unterschiedliche Interpretationen, fragmentierter Markt
Retail Media ist heute Bestandteil vieler Werbestrategien und hat zahlreiche Facetten. Aber nicht jeder meint das Gleiche, wenn sie oder er über Retail Media spricht. Für Otto Advertising umfasst der Begriff Retail Media die Wiege von Retail Media – nämlich Conversion-getriebene Media-Kampagnen. Es adressiert darüber hinaus aber auch weitere klar umrissene Ziele entlang des gesamten Marketing-Funnels. „Zu Retail Media gehören sowohl die Werbung im Umfeld von Onlineshops oder Marktplätzen, als auch alle Online- und Offline-Werbekampagnen außerhalb des Shops, die auf Basis der Nutzerdaten ausgesteuert werden“, erläutert Sabine Jünger, Vice President Otto Advertising, das Verständnis von Retail Media in ihrem Unternehmen.
Mediaagenturen sehen großes Potenzial im Bereich Retail Media, wie eine aktuelle Trendumfrage der Dmexco zeigt. In der täglichen Arbeit kämpfen die befragten Agentur-Experten überwiegend mit fehlenden Standards und allgemein gültigen Erfolgskennzahlen: Die Vielzahl der E-Retailer und deren unterschiedliche Planungsangebote führen zu einer hohen Komplexität bei der Planung und Umsetzung von Kampagnen, so ein Ergebnis der Trendumfrage. Doch es tut sich was. Seit Ende vergangenen Jahres gibt es mit dem Fachkreis Retail Media Circle (RMC) eine Interessenvertretung der großen Handelsunternehmen unter dem Dach des BVDW. Weitere Marktteilnehmer des Retail-Media-Ökosystems haben sich in der BVDW-Initiative Retail Media zusammengefunden. Gemeinsam möchte man diesen Markt weiter voranbringen, der momentan einer der wenigen Wachstumsmärkte sei.
Nach Einschätzung von Moritz Hoffmann, Geschäftsführer Retail Media bei Pilot, ist der Retail-Media-Markt insgesamt noch sehr fragmentiert und per se keine Mediagattung im klassischen Sinne. „Vielmehr ist es ein besonderes Umfeld, in welchem verschiedenste Gattungen stattfinden können. So zählen wir auch In-Store-Radio oder Out-of-Home-Kampagnen auf den Flächen der Retailer klar dazu, ebenso wie Offsite-Kampagnen, welche die Zielgruppen-Daten der Retailer nutzen“, erläutert Hoffmann. Allgemein versteht man bei Pilot deshalb unter Retail Media alle Möglichkeiten, die entweder auf verschiedensten Kanälen des Händlers selbst stattfinden, oder dessen Daten nutzen, um die Kampagne an anderer Stelle aussteuern zu können. „Gerade deshalb ist mir mein Engagement als Leiter der Retail-Media-Initiative innerhalb des BVDW eine Herzensangelegenheit, um mit allen Marktteilnehmern übergreifende Standards und Definitionen zu bilden und so für mehr Transparenz in der Thematik zu sorgen, welches abschließend den werbetreibenden Marken zugutekommt“, sagt Hoffmann.
Auch Tech-Anbieter positionieren sich
Lohnen würde es sich, denn das Marktpotenzial von Retail Media ist groß: Laut einer IAB-Prognose sollen die europäischen Retail-Media-Umsätze bis 2026 um 150 Prozent wachsen, auf 26 Milliarden Euro. Um dieses Potenzial zu heben, ist jedoch technische Werbe-Infrastruktur nötig. Das wiederum ruft auch Adtech-Anbieter wie Infosum auf den Plan. Die Data-Clean-Room-Infrastruktur des Unternehmens ermöglicht es Händlern, Werbetreibenden, Publishern und Datenanbietern, Datenkollaborationen in Retail-Media-Netzwerken mit mehreren Akteuren durchzuführen, ohne dass die Daten zu irgendeinem Zeitpunkt verschoben oder geteilt werden. Da alle Daten dezentral bleiben, behalten alle Beteiligten unabhängig voneinander die Kontrolle über ihre Daten. Auf diese Weise können sie auf Basis von First-Party-Daten Erkenntnisse über Zielgruppen gewinnen.
Aus Sicht von Dennie Trost, Director Sales für Zentraleuropa von Infosum, ermöglicht Retail Media den Marken, ihre First-Party-Daten an der wichtigsten Stelle im Marketing-Funnel zu aktivieren – am Point of Sale. „Die Kunden an dieser Stelle anzusprechen, das ist die wahre Kraft von Retail Media“, sagt Trost. Retail Media unterstütze dabei, den First-Party-Datenschatz zu heben und ihn zugänglich zu machen. „Und Retail Media sorgt dafür, dass alle Beteiligten ihren gerechten Anteil erhalten“, so Trost. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Ein Anwendungsfall ist zum Beispiel Shopper Marketing. Es ermöglicht es Händlern, ihre First-Party-Daten vollständig zu monetarisieren, indem sie ähnlich wie ein Medienunternehmen agieren. Dazu gleichen sie ihre Daten mit denen der werbetreibenden Unternehmen ab. Die Advertiser erhalten dadurch neue Erkenntnisse über ihre Kunden. Auf Basis dieser Daten können sie potenzielle neue Kunden über die Kanäle des Händlers ansprechen.
Nach Einschätzung von Trost versprechen insbesondere Off-Site-Aktivierungen auf Basis von First- und Second-Party-Daten und das Closed-Loop Measurement – das den Kampagnenerfolg ganzheitlich auf Basis der Ergebnisse im Online- und Offline-Handel misst – ein hohes Potenzial. Darüber hinaus erwartet der Experte, dass Retail Media mit anderen Werbeformaten wie Connected TV (CTV) und Audio zusammenwächst. „Zukünftig wird es für den Handel nicht mehr darum gehen, als Inventaranbieter für Brands aufzutreten, sondern Werbetreibenden eine ganzheitliche und zielgruppenorientierte Medienlösung anzubieten.“
Schon heute mehr als Abverkaufswerbung
Viele Marketer verorten Retail Media noch immer als Conversion-Kanal. Aus Sicht von Otto-Advertising-Expertin Jünger liegt das große Potenzial von Retail Media für Werbetreibende aber in der Nutzung der Daten entlang des gesamten Marketing-Funnels. „Warum sollten wir First-Party-Daten ausschließlich im Shop-Umfeld nutzen, wenn wir auf Basis dieser Insights eine Mediaplanung von Awareness über Consideration bis Conversion aufsetzen können?“, sagt Jünger. Damit vergrößere man die Reichweiten innerhalb der jeweils relevanten Zielgruppen und nutze die Datengrundlage optimal, um die Ziele bestmöglich zu erreichen.
Otto Advertising kann exklusiv auf die First-Party-Daten von mehr als 31 Millionen aktiven Nutzer-Konten der Otto Group zurückgreifen. Ein großer Datenschatz, auf dessen Basis Werbekampagnen sehr zielgenau ausgespielt werden können. Mit seinem eigenen Display-Netzwerk ist Otto an mehr als 90 Prozent aller AGOF-Vermarkter in Deutschland angebunden. Somit kann also nicht nur die eigene Reichweite in der Otto-Gruppe bespielt werden, sondern auch das Inventar von Partnerseiten.
Ausblick: Retail Media ganzheitlich denken
Aber nicht nur Retail-Media-Netzwerke oder das Zusammenwachsen mit anderen Kanälen dürften in Zukunft für Retail-Media-Werbetreibende interessant sein. Es gibt weitere Potenziale, die noch im Verborgenen schlummern. Da Daten für dieses Segment eine besondere Bedeutung haben, wäre nach Einschätzung von Hoffmann prinzipiell der Lebensmitteleinzelhandel als Wachstumsfeld prädestiniert, da er mit seinen hohen Kundenfrequenzen und dem tiefen Kundenverständnis auch eine enorme Datendichte entwickeln könnte. „Jedoch steht der LEH im Vergleich zu anderen Händlergruppen noch sehr am Anfang in Bezug auf Retail Media, bietet aber mit Abstand das größte Potenzial“, sagt Hoffmann.
Darüber hinaus werden dem Experten zufolge aktuell Gelder für Werbekostenzuschläge (WKZ) noch sehr isoliert betrachtet, was dazu führt, dass diverse Kampagnen ebenso singulär gedacht und nicht über das gesamte Promotion-Portfolio gespielt werden. „Eine stärkere Verknüpfung von WKZ und Retail Media führt langfristig zu effizienteren und wirkungsvolleren Kampagnen.“ Erst dann werde eine einheitliche Kommunikation ermöglicht und das ganze Potenzial kann sich entfalten. „Retail Media muss daher in Zukunft sowohl auf Marke- als auch auf Händlerseite ganzheitlich gedacht werden“, sagt Hoffmann. Nicht zuletzt werde das Thema auch für nicht endemische Marken an Relevanz gewinnen.
„Händler können sehr gut einordnen, in welcher Phase sich ihre Kundschaft gerade befinden, was wiederum sehr spannend für Industrien ist, die klassischerweise nicht im Handel vertreten sind.“ Dies eröffne viele neue Möglichkeiten für Marken aus anderen Segmenten wie zum Beispiel Telekommunikation, Banken oder Versicherungen, ihr Zielpublikum im richtigen Moment zu erreichen.
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