Adtrader 2023: Mehr Kanäle, weniger Adressierbarkeit, viel Zusammenarbeit
Anton Priebe, 9. Juni 2023Rund 500 Teilnehmer kamen am 6. und 7. Juni in Berlin zur zweitägigen Adtrader Conference zusammen, um über den Status quo und die Zukunft des digitalen Mediageschäfts zu diskutieren. Dabei ging es sowohl um die Herausforderungen als auch Chancen, die sich durch gravierende Änderungen in der Datenlandschaft, neu erschlossene Werbekanäle und innovative Technologien ergeben. Die Werbeindustrie ist derzeit vor allem auf der Suche nach wirksamen Modellen zur Zielgruppenansprache. Angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage und des daraus resultierenden verschärften Fokus auf Effizienz wird mehr denn je auch auf Neulinge unter Kanälen im programmatischen Kosmos und unterstützende Tools geschaut.
Am ersten Tag, dem Tech & Innovation Day, lag der Fokus auf dem operativen Geschäft. Den Teilnehmern präsentierten sich in diesem Zuge vor allem junge Technologieunternehmen, die den Arbeitsalltag vereinfachen möchten und innovative Ideen für Problemstellungen mitbrachten. Deren Hintergründe waren vielfältig und reichten von neuen Ansätzen für Marketing Mix Modeling und Targeting über Exoten im Digital-Out-of-Home (DOOH), TV und Audio bis hin zu Ad-Fraud- sowie Programmatic-Spezialisten und Kampagnenanalyse-Tools, “die Agenturen endlich einen ruhigen Feierabend ermöglichen”.
Auf der Bühne wurde darüber hinaus in Panels über effiziente Vermarktung und Entwicklungen im Programmatic-Ökosystem gesprochen. Auch wenn der Gürtel insbesondere auf Advertiser-Seite spürbar enger geschnallt werden muss, lassen sich die Marktteilnehmer nicht die Stimmung vermiesen. Stattdessen kristallisiert sich der Anspruch heraus, dass die Datenaktivierung für Werbekampagnen eben umso besser und kreativer werden muss. Gleiches gilt auch für die Anzeigen und Spots selbst. Vielleicht schafft es die Industrie dann endlich wieder, dass Werbung Spaß macht, hofft zumindest Sascha Dolling von Mediaplus. Die Publisher-Vertreter von Burdas BCN und Highfivve (Gutefrage.net) ließen erahnen, dass alternative Advertising-IDs bei der Datenaktivierung in ihrem Kosmos bislang eine untergeordnete Rolle spielen. Obwohl bei beiden Vermarktern durchaus mehrere ID-Anbieter integriert sind, hat von der Buy-Side noch keiner mit einem nennenswerten Budget nach Targeting auf eine Wunsch-ID angefragt. Diese Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage von innovativen Targeting-Optionen auf der Mediaeinkauf- und -verkaufseite war erneut an Tag zwei Thema, der vorrangig die aktuelle Marktlage einfängt.
Bildergalerie: Diese Innovatoren präsentierten sich auf dem Tech & Innovation Day 2023
Zwischen Datensouveränität, Marktfragmentierung und verschmelzenden TV-Welten
Den zweiten Konferenz-Tag eröffnete jedoch zunächst das in der Werbeindustrie mit Spannung erwartete Utiq, ein Joint Venture der Telko-Konzerne Telekom, Orange, Vodafone und Telefonica. In Gestalt von Norman Wagner, der die Führung des Unternehmens in Deutschland übernimmt, appellierte der Neuling im ID-Kosmos daran, dass wir alle “auch ein digitales Gewissen brauchen”. So entwickelt die Gesellschaft zwar zunehmend ein ökologisches Bewusstsein, doch muss dieser Zeitgeist nun ebenfalls die Digitalwelt erreichen. Denn seit dem Aufkommen der personalisierten Werbung werden Menschen hier noch immer überwiegend als Produkte betrachtet, sagt Wagner. Die Datensouveränität hat sich schon länger auf die Seite der Adtech-Unternehmen und -plattformen verlagert, während den Nutzern vor den Bildschirmen die Kontrolle entglitt. Die Telkos sind zuversichtlich, mit Utiq eine europäische ID-Lösung für Mobilgeräte gefunden zu haben, die das Gleichgewicht für alle Seiten wieder herstellt.
Die nächsten Monate werden spannend, denn vor der Herausforderung der stetig komplexeren Datenerhebung und insbesondere auch der -zuordnung stehen alle. Selbst globale Unternehmen wie Lenovo arbeiten noch daran, eine Klammer um ihre Daten für Marketingaktivitäten zu bekommen, verrät der Media-, Data- und Adtech-Verantwortliche Jesh Sukhwani. Neulinge unter den Werbekanälen wie Connected TV (CTV) machen diese Aufgabe trotz ihrer Attraktivität für Werbetreibende nicht gerade einfacher. Dafür sorgt unter anderem die extreme Fragmentierung im Anbietermarkt.
In Zukunft sollte man vielmehr von “Converged” statt von “Connected” TV sprechen, meint Tanno Krauß von Freewheel. Denn lineares Fernsehen und Streaming verschmelzen zunehmend, was dazu führt, dass die TV-Zielgruppen über beide Gattungen hinweg gesucht und adressiert werden müssen. Krauß geht immerhin davon aus, dass der Höhepunkt der Fragmentierung in CTV inzwischen erreicht ist, plädiert jedoch dafür, sie dringend in den Griff zu bekommen. Konsolidierung könnte an der Stelle helfen, doch ein Blick in Richtung des Digitalwerbemarkts und der Vormachtstellung einiger weniger Unternehmen dort schürt ebenso Ängste der Marktteilnehmer. Klar ist: ein gemeinsamer Standard in CTV, ähnlich dem OpenRTB-Protokoll, wäre ein erster Schritt.
Cookies nehmen ihren letzten Atemzug
Im Web ist neben den verschärften Datenschutzvorgaben hauptsächlich der Schwund der Third-Party-Cookies für Brüche zwischen den Datenpunkten verantwortlich, die die Branche vor Probleme stellen. Mit Google war der letzte Player auf die Bühne eingeladen, der die Cookies in seinem Chrome-Browser noch für Targeting und Measurement verwendet, um seine Zukunftspläne vorzustellen. Im Rahmen der Privacy Sandbox entwickelt der Konzern seit Jahren Cookieless-Lösungen für verschiedene Advertising-Szenarien. Im ersten Quartal 2024 müssen bereits 30 Millionen Chrome-User weltweit ohne Third-Party-Cookies angesprochen werden, im dritten Quartal wird es dann für alle ernst. “Wenn Sie eine Adtech-Plattform betreiben, ist es an der Zeit, Ihre zukünftige Strategie zu definieren...”, rät Lidia Schneck von Google.
Diese Strategie für Zielgruppenansprache und Messbarkeit muss facettenreich sein, so viel ist sicher. “Es gibt nicht mehr die eine Lösung”, sagt Alwin Viereck von United Internet Media. “Aber die Lösungen liegen auf dem Tisch und müssen getestet werden. Und zwar heute – nicht morgen.” Agenturvertreter Matthias Cada von Annalect pflichtet ihm bei. “Das bleibt. Es wird ab jetzt immer viele verschiedene Lösungen für Audience-Targeting geben.” Diese sieht der Markt vor allem in modernem, viel intelligenterem Contextual Advertising, alternativen ID-Anbietern, Datenallianzen und Kollaborationen mithilfe von Data Clean Rooms. Wenn es allerdings nach Jan Heumüller von Ogury geht, sollte die Werbung künftig komplett ohne Identifier auskommen.
Programmatic muss neu gedacht werden – was dem Markt zugutekommt
Neben der Adressierbarkeit steht im Programmatic Advertising aktuell besonders auch die Effizienz der Infrastruktur infrage, weiß Sylwia Iwanejko-Sajewska von Triplelift. Die Disziplin wurde aus dem Effizienzgedanken geboren, doch die Lieferketten wurden immer länger, komplizierter und undurchsichtiger. Nicht zuletzt treibt erstmals auch das Streben nach Nachhaltigkeit die Umsetzung von kürzeren Wegen voran. Die bröckelnde Adressierbarkeit schafft nun einen Grund mehr, um die Ketten transparenter zu machen. Das Wissen um die Audiences liegt damit schließlich zunehmend aufseiten der Publisher. Iwanejko-Sajewska gibt daher den Anstoß, sich nochmals mit Supply-Path-Optimierung (SPO) auseinanderzusetzen. Bislang haben Buy- und Sell-Side bei dem Thema in Silos gedacht. Es wird Zeit, gemeinsam an einer transparenteren – und effizienteren Lieferkette – zu arbeiten.
Im Zuge des Effizienzgedankens könnten auch neue programmatische Kanäle stärker mit ins Spiel kommen, denn was nutzt die Optimierung in einzelnen Disziplinen, wenn die Werbewirkung woanders eventuell viel größer ist? Dafür fordern die Marktteilnehmer insbesondere sauberes Reporting und Verification von den “New Kids on the Block” wie TV, DOOH, Audio oder gar Print oder Kino. Jens Pöppelmann von SQL ist zuversichtlich und glaubt an “Quantensprünge” auf dem Gebiet in der programmatischen Werbung in den nächsten Jahren.
Quantensprünge versprechen sich derzeit viele in so ziemlichen allen Bereichen, in die Künstliche Intelligenz (KI) Einzug nimmt. Auf der Adtrader Conference wurde über KI im Rahmen von Media Buying diskutiert und man war sich einig: Der Einkauf wird schon lange von Algorithmen gestützt und entscheidend für den Erfolg ist stets die Datenbasis, die das KI-Modell trainiert. Vielversprechend war für die Diskutanten vor allem der Einsatz im Bereich Kreation, speziell Dynamic Creative Optimization (DCO). Ansonsten scheinen die Auswirkungen noch nicht absehbar zu sein.
Quo vadis, Retail Media?
Den Abschluss der Adtrader machte die aktuell heiß diskutierte Gattung Retail Media. Diese wird künftig für Advertiser auch unter Branding- anstatt wie bisher nur Performance-Gesichtspunkten interessant, so Christian Wilkens von Essence Mediacom. Wir können uns hier auf eine stetige Entwicklung in Richtung Offsite einstellen, lautet der Tenor. Mit einer möglichen Renaissance des Retargetings ergibt sich in Retail Media gleichzeitig eine weitere Lösung für die so schwierige Zielgruppenansprache, die permanent eine Rolle spielte.
Zu hitzigen Auseinandersetzungen kam es auf der Konferenz allerdings selten. Vielleicht ist dies zu Teilen der Tatsache geschuldet, dass die Branche in vermeintlich schwierigen Zeiten näher zusammenrücken muss. Der Wunsch nach Dialogen auf Augenhöhe, Zusammenarbeit und engerem Austausch sowie die gemeinsame Suche nach Lösungen für aktuelle technologische Probleme waren allgegenwärtig. Mit dem Blick auf die Praxis schuf eine Veranstalter-App zumindest erstmals eine Basis für die Vernetzung vor Ort.
Die technologischen Antworten auf die Frage, wie das Werbeprodukt der Zukunft auszusehen hat, scheinen der Industrie bereits vorzuliegen. Sie müssen jetzt “nur” noch zum Einsatz kommen.
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