Zurück in Adtech nach einer Auszeit in E-Sports
Anton Priebe, 2. Mai 2023Ende der neunziger Jahre herrschten im Werbetechnologie-Sektor noch die Zeiten des Wilden Westens. Als Richard Kidd bereits erste Erfolge mit Digital Advertising feierte, waren Adserver und digitale Banner noch weitgehend unbekannt. Heute sitzt das Adtech-Urgestein nach diversen Stationen in über zwanzig Jahren wieder in demselben Hamburger Gebäude, in dem er seine Karriere 1999 begann. Dafür sorgte die "einmalige Gelegenheit" Retail Media. Im Interview spricht Kidd über seine Auszeit "auf der dunklen Seite", die aufstrebende Werbegattung Retail Media und seinen Blick auf die damalige wie heutige Adtech-Branche.
ADZINE: Hallo Richard, viele kennen dich als Adtech-Urgestein, so hast du Ende der Neunziger bei Flycast Communications gearbeitet und warst dann ab 2004 schon bei Doubleclick, noch bevor es an Google ging. Du warst jedoch der Adtech abtrünnig – wie hast du die vergangenen zwei Jahre verbracht?
Richard Kidd: Ich war auf der dunklen Seite der Macht (lacht). Nachdem ich über zwanzig Jahre in der Digitalwerbebranche war, habe ich wenig Innovationen mehr gesehen. Ich wollte etwas Neues machen und habe einige Zeit in E-Sports verbracht.
ADZINE: Warum gerade E-Sports?
Kidd: Ich bin non-executive Berater eines Video-Gaming-Hotels und hatte Lust, tiefer in das Thema einzusteigen. Parallel habe ich mit einem Unternehmen gesprochen, das E-Sports-Daten für Wetten in dem Bereich sammelt. Das hörte sich zwar tatsächlich nach der dunklen Seite an, aber dennoch interessant. Also habe ich knapp ein Jahr in Berlin gearbeitet.
ADZINE: Was hast du während deiner Zeit in E-Sports gelernt und warum hat es dich wieder in die Adtech-Welt verschlagen?
Kidd: Ich habe vor allem gelernt, dass niemand zu alt ist, um etwas Neues zu lernen. Außerdem wird E-Sports bald ein berechtigter Teil von Mediaplänen sein.
Das Wettgeschäft stellte mich aber vor eine ethische Frage. Ich wette selbst nicht und arbeite lieber mit Produkten und Lösungen, bei denen ich sicher bin, dass ich 100 Prozent dahinter stehen kann. So habe ich gemerkt, dass die Adtech-Branche noch viel zu bieten hat – es gibt genug Herausforderungen, zu denen ich definitiv etwas Positives beitragen kann.
ADZINE: Welche neuen – oder alten – Herausforderungen sind deiner Meinung nach aktuell die dringendsten der digitalen Werbeindustrie?
Kidd: Die größte Herausforderung ist es, einen Schritt zurückzugehen und auf die Gesamtsituation im Advertising zu schauen, nicht in Panik zu geraten und einen klaren Kopf zu behalten. Die Cookiecalypse zum Beispiel ist nur ein weiterer Schritt, den unsere Branche gehen muss. Mit Gelassenheit findet man schneller die richtigen Lösungen. Seit 1999 hat es immer Veränderungen gegeben und wir sind ja immer noch da.
Das Thema First-Party-Daten wird in unserer Branche jeden Tag diskutiert, ebenso wie die Walled Gardens vor ein paar Jahren. Trotzdem ist es ein sehr wichtiges Thema. Wenn Firmen keine Strategien aufbauen, um im Dialog mit den Kunden zu bleiben, wird es schwierig. Es ist wichtig, eine fundierte Strategie zu haben, die Opportunities als Unternehmen zu erkennen und die richtigen Technologien einzusetzen, um dann in Zukunft vor allem Umsatz und Kundenzufriedenheit zu sichern.
Außerdem ist Retail Media eine dringende Herausforderung, wobei hier erst einmal geklärt werden muss, was für eine Opportunity sich hier öffnet.
ADZINE: Die Begriffsunschärfe begegnet uns auch immer wieder. Was bedeutet Retail Media für dich?
Kidd: Es ist eine Kombination aus mehreren Bereichen. Einerseits muss das Inventar auf den Seiten der Händler verfügbar gemacht werden. Andererseits sollen Shop-Daten auf Websites von Dritten aktivierbar werden – es handelt sich grundsätzlich um die Onsite- und Offsite-Aktivierung von Medienangeboten. Im Zentrum steht, Konsumenten das bestmögliche Einkaufserlebnis Online und In-Shop anzubieten, ohne den Dialog zu unterbrechen und Werbebotschaften zu wiederholen.
Ich wünsche mir einen offenen Dialog zwischen Retail und Tech, um dann gemeinsam die Basis mit der richtigen Technologie für die Branche zu schaffen. Grundsätzlich geht es darum, die Zielgruppen zu erreichen und Kampagnen umzusetzen. Ich bin der Meinung, dass wir eine "golden Opportunity" – eine einmalige Gelegenheit – haben, die Online- und Offline-Retail-Welten zusammenzubringen, um Consumer Engagement, Loyalty und Product Placement zu verbessern. Untermauert wird das Ganze hier in Europa durch die DSGVO.
ADZINE: Du startest jetzt bei Mediarithmics als DACH/CE-Chef – was siehst du in der Technologie?
Kidd: Als ich zum ersten Mal von dem Unternehmen hörte, sah ich zunächst den Mann, der am Ruder sitzt. Der CEO, der 2022 zu Mediarithmics kam, ist der Ex-CEO von Sticky Ads, Gilles Chetelat. Er kennt sich sehr gut damit aus, Firmen zu skalieren, die richtigen Leute einzustellen und die Strategie festzulegen. Ich kannte Mediarithmics schon als DSP von vor einigen Jahren und wusste also gleich, wie Gilles tickt und wo es hingehen soll. Bei einem starken, europäischen Player auf dem Terrain Data gibt es für mich viel zu lernen. Außerdem baue ich gerne Unternehmen auf – dabei blühe ich auf!
ADZINE: Ihr wollt euch nicht in eine Schublade stecken lassen, trotzdem wirfst du Begriffe wie CDP und DMP mit in den Hut. Wie würdest du eure Technologie am ehesten beschreiben? Und warum ist gerade Retail ein Fokusthema?
Kidd: Retail bringt Online und Offline zusammen. Dabei geht es um die Herausforderung, herauszubekommen, wer und wo der Kunde ist. War er auf der Website, hat er etwas gekauft, besitzt er eine Loyalty-Karte? Unsere Technologie ermöglicht es Use Cases aus dem Online- mit dem Offline-Marketing zusammenzubringen, beide Datenpools miteinander zu verbinden. Es kommt aber immer darauf an, was der Kunde will.
Wer beispielsweise nach einem Parfüm online sucht, aber in den Laden geht, um es zu erschnuppern, an der Kasse dann merkt, dass er mit einem Gutschein aus der App 20 Prozent bekommt und zu guter Letzt seine Loyalty-Karte einsetzt – der muss ein konsistentes Bild für das Unternehmen abgeben. Das schaffen wir.
Wenn sich jemand bei einem Publisher einloggt, First-Party-Daten für ihn generiert, um Content mit E-Commerce zu verbinden – auch dabei helfen wir. Wir segmentieren für die Publisher ihre Audiences auch so, dass das Inventar attraktiv für die Einkaufsseite ist. Man muss heute tiefer gehen als männlich, weiblich, 30 oder 40 Jahre. Unsere Technologie schafft letztlich Transparenz über Daten.
ADZINE: Du sitzt heute im gleichen Bürogebäude, im Sandthorquaihof in der Hamburger Speicherstadt, in dem 1999 für dich alles angefangen hat. Wie hat sich die Adtech-Branche seitdem entwickelt?
Kidd: Damals war es der Wilde Westen. Keiner hat wirklich etwas von Adservern oder digitalen Bannern gehört. Heute ist alles datengetrieben und der Markt ist viel schneller geworden. Wir haben viele neue Themen, Generative AI, Retail Media, neue kreative Themen – insgesamt hat er sich sehr positiv entwickelt.
Es hat aber einige unnötige Merger gegeben, weil Private Equity fehlte. Einige Venture-Capital-Unternehmen sind nur profit- und exitgetrieben, daher mussten viele Firmen, die auf ihre Hilfe angewiesen waren, ihre Nationalität aufgeben. Es hat gute, deutsche Adtech-Firmen gegeben, die vielleicht ansonsten heute noch mitspielen würden. Mit ausreichender Private Equity würde meiner Meinung GAFA nicht so ein Gewicht haben. Die US-Amerikaner haben leider alles aufgekauft und nur weniger, kleinere europäische Adtech-Firmen sind übriggeblieben. Ich freue mich, bei einem europäischen Unternehmen arbeiten zu dürfen – wir kennen die Ins und Outs der lokalen Märkte und ich würde auch behaupten, dass wir agiler handeln können.
ADZINE: Welche Trends siehst du in der Adtech-Industrie am Horizont?
Kidd: Wir dürfen eines nicht vergessen: Es gibt Konsumenten da draußen. Die spielen eine Rolle dabei, wie erfolgreich Unternehmen sind, egal, welche Technologie diese einsetzen. Wenn du als Marke die Kommunikation mit den Konsumenten gut genug machst, bleiben sie dir treu. Als Publisher hingegen brauchst du guten Content, sonst hast du nichts zu bieten.
ADZINE: Danke für das Interview, Richard!
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