Der Werbekosmos muss in Zukunft mit weniger personenbezogenen Daten auskommen. Diese Entwicklung zeichnet sich immer deutlicher ab. Sowohl die Gesetzgebung und die Sensibilisierung der Verbraucher für Datenschutz als auch technische Veränderungen in der Anbieterlandschaft sorgen dafür, dass User-Daten rarer werden. Stattdessen sucht die Werbeindustrie nach anderen Datengrundlagen, um personalisierte Werbebotschaften an die richtigen Zielgruppen auszuspielen und den Erfolg ihrer Kampagnen zu messen. Das Jahresende wird traditionell dafür genutzt, auf das Kommende zu schauen und sich für die erkennbaren Veränderungen zu wappnen. ADZINE hat sechs Datenexpertinnen und -experten gefragt, welche Trends sie am Horizont ausmachen können, die der Werbekosmos 2023 auf dem Schirm haben sollte.
Mehr Datenquellen erfordern mehr Verständnis
Zunächst gilt es herauszufinden, woher die Daten für Marketingkampagnen stammen können. So ist in den vergangenen Jahren deutlich geworden, dass Marketingverantwortliche auf immer mehr Daten zugreifen wollen und müssen, sagt Harriet Durnford-Smith, CMO des Martech-Anbieters Adverity. Dabei würden Daten aus anderen Geschäftsbereichen wie Logistik, Vertrieb und Finanzen eine zunehmend größere Rolle spielen – und das werde sich auch 2023 nicht ändern. Die Herausforderung bestünde darin, die Daten sinnvoll zu nutzen. “Dabei lässt sich eben diese sinnvolle Nutzung von Daten in mehrere Reifegrade unterteilen”, erklärt Durnford-Smith.
“Der erste Schritt besteht in der Fähigkeit, etwas ad hoc nachzuschlagen: Wie gut laufen meine Kampagnen kanalübergreifend? Wo habe ich Potenzial? Wo sollte ich die Investitionen stoppen?”, so die Datenexpertin. Die Beantwortung dieser Fragen erfordere eine saubere und harmonisierte Datenbank, die von jedem im Unternehmen genutzt werden könne. “Zweitens müssen diese Fragen kontinuierlich beantwortet werden können, ohne die Datenbank jedes Mal abfragen zu müssen. Dieser Schritt baut direkt auf Schritt eins auf und erfordert Dashboards oder andere Mittel des Datenzugriffs oder der Visualisierung. Der letzte Schritt: Die Daten nutzen, um den Erfolg der Kampagnen zu beeinflussen – Stichwort Zielgruppen- und Profilaktivierung: Hierfür müssen Unternehmen ihre Daten und die Auswirkungen ihrer Nutzung vollständig verstehen.”
Neue kontextuelle Ansprache schafft Relevanz
Mit dem Stichwort Zielgruppenaktivierung landet man zwangsläufig beim Dauerthema “Cookiecalypse”. Die Suche nach der optimalen Möglichkeit, die bald entfallenden Third-Party-Cookies zu kompensieren, geht auch in 2023 weiter, meint Francois Roloff, CEO von Madvertise. Der Geschäftsführer des Berliner Adtech-Unternehmens ist davon überzeugt, dass eine neue Form von kontextbezogener Werbung gute Chancen hat, diesen Job zu übernehmen – “und zwar nutzerfreundlich und datenschutzkonform”.
Seiner Ansicht nach wird eine “Kombination aus Nutzungssituation, Semantik, Umgebung und Echtzeitanalyse” das Rennen machen. Den Kontext liefern laut Roloff Metadaten und verschiedene Parameter wie Wetterdaten oder der Standort. Verfeinert würden sie durch erweiterte lokale und gattungsübergreifende Werbekanäle wie Digital-Out-of-Home. Dreh- und Angelpunkt sei dabei immer die Verknüpfung von On- und Offline. “Insights zur Kundenstruktur um Points of Interests ermöglichen strategische Maßnahmen, die relevante Gruppen von Nutzer:innen zum richtigen Zeitpunkt ansprechen und sie dazu bringen, neue Stores in ihrer Nähe aufzusuchen”, so Roloff. “Kurzum: Durch die Wahl der richtigen Datenquellen und Umfelder lassen sich präzise Kampagnen-Ergebnisse erzielen – mit kontextbezogenem Targeting, das oft sogar relevanter sein kann als personenbezogenes Retargeting.”
Targeting auf Bewegungsmuster
Beim Schlagwort Kontext wird Kevin Moritz vom ebenfalls in der Hauptstadt ansässigen mobilen Datenspezialisten Adsquare hellhörig. Er glaubt, dass Omnichannel-Strategien den Monochannel-Ansatz im kommenden Jahr endgültig ablösen werden. Dafür müsste das Targeting natürlich kanalübergreifend geplant und durchgeführt werden. “Bemühungen, die rein auf Cookie-Logik basieren, werden beispielsweise ins Leere laufen”, sagt Moritz.
Seine Lösung dafür lautet ebenfalls kontextbezogenes Targeting. Allerdings sieht der DACH-Chef von Adsquare einen etwas anderen, wenn auch ähnlichen Ansatz: “Insbesondere durch die Verknüpfung von ‘Panel’-basierten Zielgruppen- und Bewegungsdaten lassen sich mittels statistischer Berechnungen Bewegungsmuster auf räumlicher Ebene vorhersagen und ohne Nutzung von Online-IDs zu Targetingzwecken einsetzen – Erkenntnisse, die sich Werbetreibende insbesondere im Bereich programmatischer DOOH- und Mobile-Kampagnen zunutze machen können.”
Viele Werbetreibende stünden angesichts der gesamtwirtschaftlichen Lage immerhin vor geschäftlichen Herausforderungen. Die Erfolgsmessung und Optimierung von Kampagnen würden dabei helfen, “ihre Werbebudgets so effizient wie möglich einzusetzen.”
Maschinen x klassische Statistik
Korrekte Erfolgsmessung setzt wiederum das richtige Attributionsmodell voraus. Hier kommt Anja Kielmann von TD Reply ins Spiel. “Im Jahre 2023 wird Algorithmic Attribution noch wichtiger werden, auch befeuert durch das Ende der Third-Party-Cookies”, prognostiziert die Senior Director der Innovations- und Marketing-Beratung, die am Marketing-Lehrstuhl der TU Berlin gegründet wurde. Kielmann erklärt, was dahintersteckt: “Das Fundament für Algorithmic Attribution bilden bewährte statistische Methoden wie Marketing-Mix-Modelling (MMM), die durch den Aufstieg cookiebasierter, digitaler Attributionsmodelle wie Multi-Touch-Attribution (MTA) ein wenig an Bedeutung verloren haben.” Allerdings würde diese einen spannenden Twist aufweisen: Algorithmic Attribution kombiniere fortgeschrittene, klassische Statistik mit Machine Learning (ML).
“In unserer Praxis funktioniert das wie folgt: Digitale Echtzeit-Metriken werden mit statistischen Regressionsmodellen angereichert, um tagesaktuelle Abverkaufsprognosen zu ermöglichen, die mithilfe von ML-Algorithmen immer genauer werden. Auf diese Art nivelliert Algorithmic Attribution einen großen Schwachpunkt von MTA, weil hier nicht die eher wenig aussagekräftigen Klicks, sondern die tatsächliche Umsatzwirkung die Attribution determiniert”, präzisiert Kielmann. “Algorithmic Attribution” ermögliche somit wie MMM eine fundierte, strategische Mediaplanung, und erlaube gleichzeitig eine operative Touchpoint-Optimierung wie MTA, allerdings auf Grundlage der tatsächlichen Umsatzwirkung.
Datenallianzen unter Publishern
Dennie Trost von Infosum wirft einen Blick auf die künftige Marktstruktur: “Im nächsten Jahr wird sich maßgeblich entscheiden, was es braucht, damit Datenallianzen funktionieren können und das offene Internet eine echte Chance gegen die Walled Gardens hat. Schon jetzt zeichnet sich ab: Es geht nur gemeinsam”, meint der Saleschef für Zentraleuropa vom britischen Datenspezialisten Infosum. Die Grundsteine dafür seien bereits in den jeweiligen Verbänden und Vereinigungen wie dem BVDW oder dem OVK gelegt worden. “First-Party-Daten werden rechtssicher und vor allem technisch sicher nutzbar sein, die Publisher-Welt wird 2023 zusammenfinden und vor allem zusammen arbeiten”, ist Trost überzeugt. Dies komme Advertisern und Publishern gleichermaßen zugute. Er prophezeit “mehr Spend im freien Internet sowie bessere Performance und Effizienz für Advertiser”.
Die Marschrichtung für das kommende Jahr: “Mehr Datenschutz, mehr Kundenfokus, mehr Zusammenarbeit. Das bedeutet, dass es 2023 kaum noch ein Unternehmen geben wird, welches keine eigene Datenstrategie parat hat – sei es ein FMGCler oder ein Streaming-Dienst.”
Konsolidierung unter Technologie-Anbietern
Zusammenarbeit sieht Daniel Pölkemann von Sourcepoint ebenfalls voraus. Allerdings an anderer Stelle: “Auch im Jahr 2023 werden und müssen Juristen, Entwickler und Produktmanager eng zusammenarbeiten. Verantwortlich mit Nutzerdaten umzugehen, erfordert ein hohes Maß an Kompetenz in genannten Bereichen und ein wechselseitig gutes Verständnis der unterschiedlichen Bedürfnisse”, sagt der Geschäftsführer für DACH und Osteuropa des US-Anbieters einer Consent-Management-Plattform.
Die rein kontextuelle Vermarktung reiche ihm zufolge nicht aus, um Mediainventar optimal zu monetarisieren. Daher bedürfe es des sorgfältigen Einsatzes von Kundendaten, unter Einhaltung der Bestimmungen der DSGVO. “Die Anzahl der Technologien, die Publisher und Supply Chain zum Einsatz bringen, wird sich in diesem Zuge konsolidieren. Publisher werden ihrer Verantwortung immer mehr gerecht werden und tatsächlich stärker monitoren, welche Technologien genutzt werden”, ist sich Pölkemann sicher. Spannend zu beobachten sei in diesem Zuge auch, welche Rolle der IAB in Zukunft spielen wird und wie sich die universellen ID-Lösungen entwickeln werden.
Tech Finder Unternehmen im Artikel
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