Ein Blick in die Zukunft – 6 Thesen zur Digitalwerbung
Carsten Becker, 25. Mai 2022Eine beständige Herausforderung unserer Branche ist es, sich permanent mit ihrer Zukunft beschäftigen zu müssen. Glaubt man dem Sprichwort, dass ein Jahr in etwa vier „Online-Jahren“ entspricht, ist das wenig verwunderlich. Kaum ein Themenfeld wandelt sich so schnell wie das des Online-Marketings. Was gestern noch gelernt war, ist morgen schon ein alter Hut. Da ergibt es Sinn, sich gelegentlich intensiver mit der Frage zu beschäftigen, was uns in der nahen Zukunft beschäftigen wird. Aus einer solchen Übung heraus sind folgende Thesen entstanden, die ich in den letzten Wochen bereits auf Linkedin mit meinem Netzwerk geteilt habe.
1. Keiner wird mehr von Programmatic sprechen
Mittlerweile spricht man schon so lange und selbstverständlich von „Programmatic Advertising“, dass ich gar nicht mehr weiß, wann diese Formulierung die Vorläufer “Real Time Bidding” (RTB) und “Real Time Advertising” (RTA) abgelöst hat. Schnell vergisst man dabei die „goldenen Jahre“, in denen Youtube-Inventare und selbst Facebook mit seiner eigenen Exchange dem offenen Ökosystem zugänglich waren. Für mich persönlich war es die Hochzeit von Programmatic, auch wenn sich die Qualität des Einkaufs über die Jahre immer weiter verbessert hat und Prozesse professionalisiert wurden. Hochzeit auch deshalb, weil so gut wie alle namhaften Inventarhalter über ein und dasselbe Ökosystem angeschlossen waren. So konnten die Algorithmen der DSPs ihr volles Potenzial entfalten und KPIs waren einfacher miteinander zu vergleichen, da alle Daten an einem Ort zusammenliefen. Dies wurde durch den „Rückzug“ der eigenen Daten und Inventare einiger Player in den hauseigenen Walled Garden stetig erodiert. Zusätzlich sind neue Anbieter mit exklusiven Inventar- oder Datenpaketen in den Markt eingetreten, was die Fragmentierung verstärkt hat.
Hatte Programmatic lange Zeit vor allem drei Facetten inne, nämlich den Einsatz von personenbezogenen Daten, offene Preisfindung und Transparenz über die Supply Chain sowie vollständige Kontrolle durch Self Service; bleibt vor allem letzteres Kriterium bestehen, wenn man sich das heutige Ökosystem anschaut. Ob eine Preistransparenz innerhalb von geschlossenen Systemen gegeben ist, darüber kann man sicherlich streiten. Weniger strittig ist der Fakt, dass wir uns einem massiven Rückgang an personenbezogenen Daten gegenübersehen. Mitnichten bedeutet dies das Ende von Programmatic, aber der Name bezeichnet eine Einkaufsart und keinen Kanal, auch wenn das fälschlicherweise oft angenommen wird. Da technisch gesehen zukünftig alle Kanäle programmatisch eingekauft werden können, wird sich die Formulierung abnutzen. Stattdessen wird man zukünftig in der Mediaplanung viel mehr zwischen Self-Service bzw. Self-Booking & Optimization und Managed Service – also IO Buchungen – unterscheiden. Dieser Trend wird durch die vielen Selfbooking Tools begünstigt, die von allerlei Vermarktern ins Leben gerufen werden. Dies sind oft keine echten DSPs und somit auch nicht „programmatisch“, sie können aber ähnlich wie Google Adwords oder der Facebook Business Manager von Campaign Managern bedient werden.
2. Attention wird Viewability als KPI ablösen
Machten Mitte der 2010er Jahre etliche Meldungen Furore, dass überhaupt nur jede zweite Display-Werbung sichtbar sei, gehört die Viewability-Messung heute zum absoluten Standard im digitalen Ökosystem und ausgewählte Vorreiter erhielten sogar Einzug in die sonst so verschlossenen Walled Gardens. Viewability ist unbestritten ein wichtiger KPI, wenn es um Werbewirkung geht. Schließlich kann eine Werbung, die nicht gesehen werden konnte, auch keine Wirkung erzielen. Dieselbe Offensichtlichkeit schwingt auch in der folgenden Aussage mit: „Wenn kein Mensch der Werbung Aufmerksamkeit schenkt, besteht auch keine Chance, dass die Botschaft ankommt“, die so von Prof. Karen Nelson-Field getätigt wurde.
Was zunächst banal erscheinen mag, stellt die Branche vor eine Herausforderung. Wohingegen die Viewability durch technische Finesse ermittelt werden kann, stellt sich die Frage, wie man die Aufmerksamkeit eines Nutzers ermitteln will? Bereits heute ist eine solche Erhebung nicht ganz unmöglich, wenngleich schwierig in der Umsetzung und bisher wenig standardisiert. Mit einer Verschiebung des Fokus Richtung „Attention Measurement“ und der damit einhergehenden Forderung der Werbetreibenden werden sich die Möglichkeiten verbessern und vervielfältigen. Was heute noch in aufwändigen Laborstudien ermittelt wird, wird morgen durch die fortschreitende Entwicklung an Technologie und der daraus resultierenden Möglichkeiten zum neuen Standard lancieren.
3. Werbeausgaben auf Facebook werden erstmals rückläufig sein
Das erste Mal, seit dem in Erscheinung treten der sozialen Plattform, werden wir rückläufige Werbebudgets sehen. Dies hängt vor allem mit der Verschiebung der Nutzung zusammen, die nicht zuletzt durch das immer breiter werdende Angebot an Alternativen abzusehen war. Nutzte man in den Anfängen ausschließlich Facebook zur Vernetzung mit Freunden und Unternehmen, sind über die Jahre mit Tiktok, Instagram und Snapchat andere relevante soziale Plattformen dazugekommen – um nur einige zu nennen. Auch die generelle Verschiebung hin zu Videoinhalten in der Konsumpräferenz hat dazu beigetragen, wenngleich Facebook dem bestmöglich entgegengewirkt hat. Bestand der Feed vor ein paar Jahren noch zumeist aus Bildern und Texten, scrollt man heute in der Regel durch einen nie enden wollenden Video-Content. Aber eben weniger nativ, als es zum Beispiel bei den eben genannten Plattformen der Fall ist.
Bot Facebook seinen Mitmenschen ursprünglich einen exklusiven Benefit durch denMehrwert der Vernetztheit, erodiert dieses Alleinstellungsmerkmal aufgrund der stetig wachsenden allgemeinen Vernetztheit in Zeiten der Digitalisierung. Das führt in der Konsequenz auch zu sinkenden Nutzerzahlen, wie man Ende 2021 erstmalig beobachten konnte. Sinkende Nutzerzahlen und Nutzungshäufigkeit haben zwangsläufig Budgetkürzungen zu Folge. Der Vollständigkeit halber muss man sagen, dass sich dieser Effekt ausschließlich auf Facebook als Plattform bezieht, nicht jedoch auf den Gesamtkonzern Meta, der unter anderem mit dem Zukauf von Instagram und dem Einführen der Stories-Funktion diesen Trend antizipiert und zu seinen Gunsten genutzt hat.
Insgesamt ist dies etwas, was langfristig nicht nur exklusiv Facebook betreffen wird. Wir neigen dazu, Unternehmen und Plattformen während Ihrer Hochphase zu überschätzen und unterschätzen das Risiko, dass diese genauso schnell von einem noch innovativeren Wettbewerber eingeholt werden können. Man denke in dem Zusammenhang beispielsweise an ICQ, Myspace oder auch Nokia. Dass die GAFAs einmal dasselbe Schicksal ereilen könnte, fühlt sich zugegebenermaßen heute noch unwirklich an, aus Sicht eines Historikers wirkt das Szenario aber wahrscheinlich weniger unrealistisch. Interessant ist an der Stelle auch die Aussage von Jeff Bezos, der bereits selbst vorhergesagt hat, dass der Erfolg von Amazon endlich ist.
4. CTV-Preise werden sich verdoppeln
Der vermehrten Handynutzung während des Fernseherlebnisses zum Trotz wird Connected TV auch in den kommenden Jahren der stärkste Wachstumstreiber im digitalen Marketing sein. Was zuvor für Video-Content als solchen galt, gilt nun insbesondere für jenen, der auf dem großen Bildschirm im heimischen Wohnzimmer gestreamt wird: Die Nachfrage übersteigt das Angebot – und zwar bei Weitem. Hiermit ist indes nicht das Angebot für den Konsumenten gemeint – dieser wird schier erschlagen von der riesigen Vielfalt, die der Markt ihm mittlerweile bietet.
Allerdings haben die Entertainment-Platzhirsche wie Netflix, Amazon Prime und Disney Plus eins gemeinsam: Sie finanzieren sich – bislang zumindest – nicht durch Werbung. Die geballte Nachfrage der werbetreibenden Industrie konzentriert sich also auf die wenigen Anbieter, die Werbung zumindest erlauben. Hier seien neben den klassischen Broadcastern beispielsweise auch Sky oder Dazn genannt, die sich sowohl über ihre Abonnenten als auch über Werbeerlöse finanzieren. Im Bruttoreichweitenvergleich aller streambaren Inhalte gehen diese werbefinanzierten Anbieter aber beinahe unter. Da jeder ein Stück vom – viel zu kleinen – Kuchen will, ist es wenig verwunderlich, dass die Preise förmlich explodieren. Was wir hier bereits zum Jahreswechsel beobachten konnten, ist erst der Anfang einer nachhaltigen Verschiebung der CTV-TKPs, welche durch die sinkenden Nutzungsraten im linearen TV nur noch beschleunigt wird. Gegen Ende des Jahres werden sich die Preise für digitale TV Werbung zumindest stellenweise verdoppelt haben.
5. Werbe-IDs werden abgelöst
Auf der einen Seite befinden sich die Regulierungsbehörden und Browser, die sich als solche verstehen wollen, die dem Datenaustausch im Web von Entscheid zu Entscheid kritischer gegenüberstehen und mehr Restriktionen in der Datenerhebung sowie -verarbeitung fordern beziehungsweise antizipativ umsetzen. Auf der anderen Seite steht die Industrie, die teilweise abhängig von den Geschäftsmodellen mit ID-Daten ist, aber wir finden auch Publisher und Verlage, die die Pressefreiheit und Meinungsvielfalt in Gefahr sehen, wenn ihnen die Monetarisierung ihres redaktionellen Contents durch personalisierte Werbung untersagt wird.
Bei all den Pro- und Kontra-Argumenten, die es durchaus auf beiden Seiten gibt, ist meines Erachtens ein Trend jedoch klar zu erkennen und auch nicht mehr umzukehren. Dieser geht dahin, dass personenbezogene Daten – also IDs – zur Nutzung für Werbezwecke komplett verschwinden werden. Technisch gibt es mit Vertretern verschiedener Art Lösungen, die auch nach dem jüngsten Beschluss der belgischen Datenschutzbehörde gegen das Transparency and Consent Framework (TCF) Bestand haben könnten. Jedoch darf man bei diesen Lösungen die Wünsche der Bevölkerung nicht außer Acht lassen. Diese mag zwar Werbung als solche akzeptieren und zuweilen auch als bereichernd empfinden, wird spätestens aber dann skeptisch, wenn es um ihre persönlichen Daten geht, die zu diesem Zwecke verwendet werden sollen. Und Hand aufs Herz – kann man das aus Anwendersicht nicht auch ein Stück weit nachvollziehen? Die Politik und die aktuellen Rechtsprechungen sind nur Ausdruck des expliziten Wunsches der Bevölkerung, dass ihre Daten nicht zu Werbezwecken gesammelt und genutzt werden. Wir müssen uns als Branche ernsthaft fragen, wie lange wir hier gegenhalten wollen. Auch wenn die technischen und organisatorischen Maßnahmen höchsten Datenschutzstandards entsprächen und mit der DSGVO im Einklang stünden, ginge es doch am Grundbedürfnis nach Datensparsamkeit der Menschen vorbei.
Anders kann das wieder aussehen, wenn der sogenannte „value exchange“ für den Nutzer überwiegt. Er also bereit ist, in die Datenverarbeitung einzuwilligen, um einen echten Mehrwert zu erhalten. Als Beispiel sei hier die Nutzung von Navigationsdiensten genannt. Für die meisten Unternehmen dürfte es allerdings schwer sein, diese Mehrwerte zu schaffen und auch selbst dann, dürften nicht alle Menschen den Deal eingehen wollen. Zeitgleich erleben wir eine regelrechte Flut an aufkommenden Alternativen. Hier seien insbesondere neuartige, kontextuelle und geoanalytische Ansätze hervorgehoben. Nimmt man alle Entwicklungen zusammen, scheint es nicht unrealistisch, dass Werbe-IDs flächendeckend verschwinden und Platz für andersartige, nicht weniger spannende, Targeting- und Attributionslösungen machen werden.
6. Werbung im Metaverse wird teurer als OOH-Plakate
Wer das Rennen im Wettlauf der Metaverse-Programmierung machen wird, weiß ich natürlich nicht. Ebenso wenig, wann genau die erste virtuelle Realität Massentauglichkeit erreichen wird. In einer Sache bin ich mir jedoch fast sicher: die ersten OOH-Banner, die in einem Metaversum à la Second Life geschaltet werden, werden im TKP teurer sein, als gleichwertige Banner in der echten Welt. Ehrlicherweise ergibt sich das vor allem aus der Neuartigkeit und dem Hype um das Thema, aber auch langfristig räume ich dem Werbemarkt in virtuellen Welten ein hohes Monetarisierungspotenzial ein. Erzeugt man in einer solchen Welt doch ungeteilte Aufmerksamkeit für das Erlebte, ganz im Gegensatz zur echten Welt, die voller Ablenkungen steckt.
Was zunächst absurd erscheinen mag, ergibt bei näherer Betrachtung durchaus Sinn. Das Metaverse der Zukunft wird zwar angelehnt an der Realität sein, bildet aber keinesfalls dessen Abbild. Vielmehr wird alles, was negative Emotionen erzeugen könnte, schlicht nicht übernommen oder im späteren Verlauf umprogrammiert. Dies ist auch der Grund, warum von dieser „Scheinwelt“ ein so hohes Suchtpotential ausgehen wird. Für einige Menschen werden die im Metaverse verbrachten Minuten attraktiver sein als die erlebten Minuten in der echten Welt. Was wiederum dazu führt, dass sie dort einen größtmöglichen Zeitraum verbringen möchten. Nimmt man diese beiden Dinge, Qualität des Erlebnisses und Quantität der Nutzung, zusammen, ergeben sie die Grundlage für einen neuen, wirkungsvollen Werbekanal. Zugegebenermaßen ist ein Verschmelzen von physischer und virtueller Realität in dieser Form noch Zukunftsmusik, wir sehen aber bereits jetzt schon die ersten OOH-Banner bei einigen Metaverse-Pionieren. Unternehmen wie Adidas, Nike, oder PWC sind zudem bereits im Metaversum angekommen und haben erste, virtuelle Räumlichkeiten eröffnet.
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