Der Abschied vom Third-Party-Cookie schwebt seit Jahren wie ein Damoklesschwert über der Werbeindustrie. Die Einschränkungen, die mit neuen oder überarbeiteten Datenschutzbestimmungen zusammenhängen, tun ihr Übriges, um das Geschäftsmodell vieler Publisher ins Wanken zu bringen. Insbesondere das Retargeting dürfte künftig eine der leidtragenden Disziplinen sein, das vorrangig für den E-Commerce als Mediakunden reserviert ist. Wie holen sich die Publisher also dieses Geschäft mit dem Handel zurück, der einer der größten Spender im deutschen Media-Business ist? Ein Trend, der über den großen Teich schwappt und Hoffnungen schürt, ist Commerce Content.
Mit Commerce Content ist unter anderem die Erstellung von Content für Shoppingwillige gemeint, also Tests, Preisvergleiche oder Anleitungen, um diese dann mit Affiliate-Maßnahmen zu monetarisieren. Das hört sich zunächst nach klassischem Affiliate-Geschäft an. Neu ist daran jedoch, dass auch traditionelle News-Publisher auf den Zug aufspringen und verstärkt auf Technologie setzen, um bei E-Commerce-Kunden zu punkten.
Commerce Content als wichtige Ertragssäule
“Die Kommerzialisierung von redaktionellen Inhalten ist per se nicht neu, hat aber an Bedeutung zugenommen”, meint Karsten Jentsch, General Director E-Commerce, Content & Partner Operations bei der Ad Alliance. “Hier spielen sicherlich auch zwei Effekte der Corona-Pandemie rein: Zum einen haben sich Konsumenten in den letzten zwei Jahren zunehmend und nachhaltig an das Online-Shopping gewöhnt, zum anderen sind Verbraucher sehr viel feinfühliger geworden, was Platzierung und Tonalität von Werbebotschaften betrifft.” Commerce Content verbinde diese beiden Aspekte und habe darüber hinaus den Effekt, eine Art Einkaufserlebnis wie im stationären Handel zu bieten – zum Beispiel hinsichtlich der Beratungsleistung in Form von Produktvergleichen oder Testberichten. Es muss jedoch abgewogen werden, ob und wie es auf Nachrichtenseiten eingesetzt wird, sagt Jentsch.
Grundsätzlich bilde maßvolles Commerce Content mit Mehrwert für den User eine zunehmend wichtige Ertragssäule – gerade auch zur Sicherung von hochwertigem Journalismus. “Es ist definitiv ein Baustein bei der Monetarisierung unserer digitalen Reichweiten und damit auch ein wichtiger Bestandteil der Ad-Alliance-Aktivitäten. Bei RTL Deutschland haben wir über die Jahre eigene Content-Commerce-Strategien entwickelt, in die all unsere Erfahrungen einfließen – von der klassischen Werbevermarktung bis hin zum Wissen über unsere Nutzerschaft und die Erfahrung in der Produktion hochwertiger Inhalte”, erklärt Karsten Jentsch. “Entsprechend gibt es zwei Handlungsstränge zu erfüllen: Shopping-nahe, digitale Inhalte sollen einerseits Nutzenden bei der Kaufentscheidung helfen und andererseits Inhalte so produziert und integriert sein, dass sie bei unseren Werbepartnern verkaufsfördernd wirken.” Darum kümmert sich bei der Ad Alliance ein Team mit Erfahrung im Affiliate- und E-Commerce-Geschäft sowie im Bereich Content Marketing, das eng mit den Redaktionen sowie den Produkt-, Business- und SEO-Verantwortlichen agiert.
Targeting-Einschränkungen halb so schlimm?
Besondere Dringlichkeit beim Thema Commerce Content scheint zumindest Publisher-Mitstreiter Ströer nicht zu sehen. “Grundsätzlich teilen wir die These, dass sich programmatische Vermarktung mit dem Third-Party-Cookie-Sunset stark verändern wird. Wir glauben dennoch weiterhin an die Stärke zielgenauen Targetings von Werbung wie auch Inhalten und arbeiten intensiv daran, durch den Einsatz alternativer ID-Systeme sowie ID-loser Targetingmodelle dies auch weiterhin unseren Usern auf Leser- und Werbekundenseite effektiv anbieten zu können”, sagt Sven Scheffler, Chief Operations Officer der Ströer Content Group Operations. Auch wenn die negativen Effekte bislang ausbleiben, wappne man sich jedoch natürlich auch hier.
So seien Verschiebungen des Werbemarkts in Richtung des kontextuellen Marketings denkbar, aber sicherlich auch in Richtung Commerce Content. “Das ist nicht neu und wir machen das seit Jahren bei T-Online sehr erfolgreich. Ohnehin haben wir immer schon Wert auf eine umfangreiche Zusammenarbeit und Integration mit zahlreichen Shopping-Partnern, wie zum Beispiel Otto, Lidl oder Tchibo gelegt. Ergänzend haben wir in den letzten Jahren auf allen Ströer-Portalen das Thema Affiliate deutlich ausgebaut”, erklärt Scheffler. Im Kern steht Scheffler zufolge dabei eine qualitativ-hochwertige Beratung der Nutzer bei redaktionellen Produkttests, Kaufberatungen oder Tipps zu Preis-Schnäppchen.
Werbetechnologie leistet Hilfestellung
Auf der Adtech-Seite arbeitet man derweil fleißig daran, neue Tools für Commerce Content zu entwickeln – und das Interesse ist da. “Die Nachfrage von Publishern nach Commerce-Content-Tools und allgemein nach Commerce Content als strategische Ausrichtung ist in den letzten 18 Monaten deutlich gestiegen”, stellt Tobias Conrad, CCO und Co-Geschäftsführer beim Hamburger Adtech-Unternehmen Yieldkit, fest. “Die Publisher interessiert dabei besonders, wie sie mit ihrem Content eine gute Vermarktungsgrundlage schaffen können, welche Möglichkeiten sie haben, ihre Inhalte nativ mit Advertisern und Netzwerken zu verknüpfen – und dabei ihren Content auf- und nicht abzuwerten.” Die Nachfrage sei aber auch bei Advertisern gestiegen, die wissen möchten, wie die Tools eingesetzt werden können, damit User vom Publisher ohne Umwege über Marktplätze direkt in ihre Shops geleitet werden.
Für US-Player Sovrn war der Commerce-Content-Trend ebenfalls schon lange ersichtlich. Schließlich wird er stark von Übersee aus getrieben. “Die Entwicklung der letzten Jahre hin zu konsequent durchgesetztem Datenschutz, was wir übrigens sehr begrüßen, und damit auch eng verbunden das sich abzeichnende Ende des Third-Party-Cookies sind enorme Herausforderungen für das Werbegeschäft, insbesondere für unabhängige Verlage. Commerce Content, der zielgenau auf Affiliate Marketing setzt, ist für Publisher ein vielversprechender Hebel, um Einnahmequellen zu diversifizieren”, ist sich Michael Zeisler, Regional Director bei Sovrn, sicher. Einige Publisher haben seiner Erfahrung nach bereits eine Strategie entwickelt und testen Commerce Content aus, andere beginnen gerade erst damit, diese neue Einnahmequelle zu erschließen.
Warum sich gerade Adtech-Unternehmen hier mit einbringen können und sollten, ist nicht offensichtlich. Tobias Conrad hat dafür jedoch eine solide Begründung parat: “Commerce Content ist Data Driven Publishing und Adtech-Unternehmen wissen sehr gut, welche Daten für die Messung der Conversion relevant sind, wie die User Journey auf Basis von Daten optimiert werden kann und mit welchen Commerce-Content-Tools sie die besten CTRs und ein gewünschtes Ergebnis erzielen.” Gerade Publisher mit weniger Digitalkompetenz profitieren von der Erfahrung und dem technologischen Know-how der Adtech-Spezialisten, so Conrad.
Der Fokus bei der Entwicklung der Tools, die Publisher helfen sollen, liegt bei Sovrn vor allem auf zwei Aspekten. “Uns treibt ganz klar das Thema User Experience an. Mit all unseren Lösungen wollen wir ein positives Erlebnis schaffen”, sagt Zeisler. Außerdem gehe es um Datenqualität. “Für Publisher, die immer stärker Commerce Content nutzen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die über Affiliate-Links beworbenen Produkte tatsächlich verfügbar sind und die Preise korrekt ausgewiesen werden.” Auch dabei könne Adtech unterstützen.
Agenturseite zeigt sich kritisch
Dass Commerce Content das voraussichtlich einbrechende Retargeting-Geschäft zumindest in Teilen auffängt, scheint eine weit verbreitete Meinung im Markt. Die Publisher haben bereits die Weichen gestellt und die Adtech-Unternehmen sind vorbereitet. Die Nachfrage bei einer Agentur, die sich unter anderem Content Marketing auf die Fahne schreibt, also auch Inhalte zur Vermarktung erstellt, zeichnet hingegen ein etwas anderes Bild.
Einig ist man sich immerhin bei dem Drang zur Diversifizierung der Publisher: “Risikolose Premium-Vermarktung auf TKP oder Festpreis ist für die meisten Publisher nur ein urbaner Mythos aus grauer Vorzeit des Internets. Die meisten haben sich mittlerweile sehr breit aufgestellt, was die Monetarisierung angeht”, meint Sven-Olaf Peeck, Geschäftsführer von Crowd Media. “Wenn Retargeting nicht mehr wie gewohnt funktioniert, müssen die damit zusammenhängenden Erlösausfälle kompensiert werden. Alternativer Content, wie beispielsweise Produkttests, die mit Affiliate-Maßnahmen monetarisiert werden, könnte eine Möglichkeit sein. Neu ist das allerdings nicht, da Publisher schon lange suchvolumengetrieben agieren. ‘Commerce Content’ klingt für mich in erster Linie nur nach einem netten Namen, der von Zauberhand das Erlösproblem beheben soll.”
Das eigentliche Problem dabei sei, dass Affiliate-Spezialisten wie Check24 über die Jahre sehr viel Vorsprung an Wissen gegenüber Newspublishern angehäuft haben. “Es wird also sicherlich keine einfache Aufgabe”, so Peeck. “Titel wie Bild werden es als Marke dabei einfacher haben als Special-Interest-Titel, da sie nicht wie Chip dazu verdammt sind, im Technik-Retail-Teich zu fischen.”
Streiten sich Advertising und Affiliate künftig um Werbeplätze?
Michael Zeisler von Sovrn schrecken solche Aussagen nicht ab. “Advertising und Affiliate werden in Zukunft im Wettbewerb miteinander um die Aufmerksamkeit der User buhlen”, prognostiziert er. “Dabei ist es wichtig, nicht in getrennten Silos zu operieren, sondern die Daten miteinander zu verbinden und sie über alle Erlösströme hinweg zu nutzen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass eine Affiliate-Platzierung mit einer Anzeige im Header-Bidding auf der Grundlage der prognostizierten CPMs konkurrieren wird”, so Zeisler kühn.
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