Sowohl die vorherige Segmentierung als auch die anschließende Verifizierung von Zielgruppen werden immer komplexer und sind dennoch elementar wichtig für den Erfolg digitaler Werbung. Die Messdienstleister sehen sich fortlaufend mehr Kanälen und Geräten gegenüber, die sie berücksichtigen müssen. Im Interview erklärt Sedat Polat, Country Director DACH des technologiebasierten Marktforschungsunternehmens Audience Project, was sich hinter dem Begriff Zielgruppenmessung tatsächlich verbirgt, wie man Website- oder Kanal-übergreifende Messungen schafft und welche Entwicklungen er in den kommenden Jahren voraussieht. Eines ist klar – Stillstand kann sich keiner erlauben.
ADZINE: Hallo Sedat, was verbirgt sich hinter dem Begriff Zielgruppenmessung? Erfolgsmessung findet doch normalerweise im Nachhinein statt und die Zielgruppe definiert man im Voraus?
Sedat Polat: Wir unterscheiden zwischen Planung und Messung. Bei Planungstools wie zum Beispiel von der AGOF werden Umfelder im Voraus gemessen und man weiß ungefähr, welche Zielgruppen auf welchen Inventaren unterwegs sind, etwa Männer im Alter von 30 bis 49 Jahren.
Unsere Kernkompetenz ist aber die Messung während der Kampagnenlaufzeit, beispielsweise wenn Kampagnen programmatisch auf verschiedensten Inventaren ausgeliefert werden. Dann will man feststellen, wie gut die Zielgruppe auch tatsächlich getroffen wurde. Diese Daten liefern wir in Echtzeit.
ADZINE: Das ist Audience Verification, richtig?
Polat: Wir nennen das Audience Measurement, weil wir die Zielgruppen nicht nur verifizieren, also bestätigen, dass die Kampagne zu 40 Prozent Männer zwischen 30 und 49 Jahren erreicht hat. Wir liefern daneben auch die Zielgruppenkomposition, zeigen also, wen die Kampagne sonst noch erreicht hat, und weisen die Nettoreichweite aus, also wie viele Menschen in Berührung mit der Kampagne gekommen sind. Gerade die Nettoreichweite war früher noch einfacher zu ermitteln, weil es nur einen Desktop-PC mit einem Browser gab. Mittlerweile ist das bei acht bis zehn internetfähigen Geräten pro Haushalt und verschiedensten Zugängen weitaus komplexer.
ADZINE: Ihr modelliert aber auch Zielgruppen?
Polat: Genau, beides basiert auf unserem Panel, das wir onsite rekrutieren. Dafür sorgen Partnerschaften mit verschiedenen Vermarktern und Publishern, bei denen wir Befragungsdaten erheben. In Deutschland umfasst unser Panel circa 100.000 User. Diese Daten nutzen wir sowohl als deterministische Datenbasis für das Audience Measurement als auch als Trainingsdatensatz für einen Machine-Learning-Algorithmus, der damit probabilistische Targeting-Segmente erstellt. Die Partner bieten die Segmente dann zum Targeting an.
ADZINE: Die Publisher verkaufen also selbst. Warum macht ihr das nicht direkt auf der Einkaufsseite?
Polat: Wir glauben nicht, dass das fair wäre. Wir wollen das Geschäft der Vermarkter, das ja auch daraus besteht, ihr Inventar mit Daten veredelt zu verkaufen, nicht kannibalisieren. Der Deal ist, dass die Targeting-Segmente, mit denen das Inventar veredelt wird, den Vermarktern gehören und die Befragungsdaten, die wir für deren Erstellung erheben, uns gehören.
ADZINE: Wie schafft ihr Website- oder Kanal-übergreifende Messungen?
Polat: Das kommt auf das jeweilige Werbeumfeld an. Wir glauben, dass es für verschiedene Umfelder verschiedene Lösungen und Methoden geben muss. Im Open Web zum Beispiel muss der Werbetreibende ein Pixel von uns auf Creative-Ebene einbauen. In geschlossenen Ökosystemen wie beispielsweise Facebook oder Youtube geht das bekanntlich nicht. Daher arbeiten wir dort mit Direktintegrationen. Die Messung findet also innerhalb eines Cleanrooms statt, wo Meta- beziehungsweise Google-User anhand der verschlüsselten E-Mail-Adressen mit unseren Panelisten gematcht werden. So ist ein Kontakt mit entsprechenden Kampagnen auf den Plattformen nachweisbar und – sobald der Hash entschlüsselt ist – reichern wir den Kontakt mit den Informationen aus unserer eigenen Datenbank über die User an.
ADZINE: Ihr beschreibt euch als technologiebasiertes Marktforschungsunternehmen. Kommt man ohne Technologie heutzutage in der Marktforschung überhaupt noch weit?
Polat: Nein, und speziell in der Medienforschung wäre das aufgrund der fragmentierten Medienlandschaft und der damit einhergehenden fragmentierten Mediennutzung über verschiedenste Kanäle und Geräte nicht nur äußerst schwierig, sondern auch sehr teuer. Bei Bewegtbild beispielsweise reichte es früher aus, ein kleines Panel mit Set-Top-Boxen auszustatten und darüber die wenigen Kanäle im TV zu messen. Mittlerweile wird Bewegtbild aber über eine Vielzahl an Geräten, Plattformen und Zugangswegen konsumiert. Das lässt sich mit den Methoden von früher heute gar nicht mehr abdecken. Man braucht viel eher ein Legosystem an Methoden, die man aber – wie bei Lego – zu einem stimmigen Gesamtbild zusammensetzen muss. Und das ist die Herausforderung. Man muss schauen, auf welcher Plattform welche Methode funktioniert und wie man die Einzelteile sinnvoll zusammenfügt.
ADZINE: Der stetige Anstieg von Kanälen und fragmentierten User Journeys müsste für Innovation aufseiten der Messdienstleister sorgen. Ist das der Fall? Siehst du mehr Innovation auf deinem Sektor?
Polat: Der Bedarf an Innovation ist da. Das sieht man ja auch am Aufruf der World Federation of Advertisers für eine bessere und zeitgemäßere Zielgruppenmessung. Viele etablierte Anbieter haben aber einfach vor Jahren mal ein System aufgesetzt, das viel Geld gekostet hat, und versuchen das so lange wie möglich weiterlaufen zu lassen.
ADZINE: So ziemlich jeder klagt über das Ende der Third-Party-Cookies. Du siehst die Sache positiv. Warum?
Polat: Wie schon gesagt lief früher online alles über einen Browser im Desktop-PC oder Laptop, sogar Facebook. Deswegen konnte man recht gut über Cookies messen. Wir sind aber schon lange nicht mehr in dieser Zeit. Wir haben Smartphones, Connected-TVs und verschiedenste App-Anwendungen, die der Cookie nicht mehr abdecken kann. Das Ende des Third-Party-Cookies betrifft also eh nur einen Teilbereich, nämlich den browserbasierten Open-Web-Traffic. Inzwischen gibt es aber viel bessere und datenschutzfreundlichere Methoden wie Direktintegrationen oder das Virtual People Modelling.
ADZINE: Was ist Virtual People Modelling?
Polat: Es handelt sich hierbei um eine statistisch anspruchsvolle Methode, mit der man die Online-Population als virtuelle Population modelliert und dann verschiedene Events mit unterschiedlichen Identifiern einer virtuellen Person zuordnet, sodass am Ende die Rechnung immer noch konsistent aufgeht. Dafür braucht man allerdings ein repräsentatives, sauber gewichtetes Panel als “Ground Truth”. Dieses nutzt man für die empirische Schätzung der Aktivitätsverteilungsfunktionen, um letztlich zu bestimmen, welche Events – etwa Interaktionen mit Werbung – und damit auch welche Identifier zu einer virtuellen Person mit entsprechenden soziodemografischen Eigenschaften gehören.
ADZINE: Welche Entwicklungen siehst du bei der Zielgruppenmessung in den kommenden Jahren voraus?
Polat: Man muss immer agil bleiben und sich an die Gegebenheiten anpassen. Es gibt kein Modell mehr, das man aufbaut und dann zehn Jahre lang laufen lassen kann. Ein gutes Beispiel dafür ist Tiktok. Noch vor drei oder vier Jahren war Tiktok in der Mediaplanung irrelevant. Genauso wird es weitergehen. Es werden auch weiterhin neue Geräte, Applikationen und Kanäle hinzukommen, die immer wieder zu neuen Herausforderungen führen. Zurücklehnen kann sich da keiner mehr.
ADZINE: Danke für das Interview, Sedat!
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