Fachkräftemangel bremst digitale Transformation ohne Gegensteuern massiv aus
René Weber, 15. Februar 2022Wenn es um Themen wie Plattformökonomie, digitale Transformation oder Fachkräftemangel geht, führt an Dr. Holger Schmidt aka „Netzökonom“ als Speaker und Dozent kaum ein Weg vorbei. Holger ist bekannt als Mann der klaren Worte: Umso mehr hat sich ADZINE darüber gefreut, dass er im Interview die aktuellen Herausforderungen bei der Suche nach Fachkräften und die Bedeutung von Weiterbildung ungeschönt offenlegt.
ADZINE: Holger, angenommen du wärst wieder in deinen „Sweet-20s“ (mit paar grauen Haaren weniger): Würdest du nach der Promotion wieder als Journalist bei der FAZ beginnen oder doch lieber als Coder durchstarten?
Dr. Holger Schmidt: Bei der FAZ anzufangen, war schon ganz cool. Coden ist nicht so mein Ding.
ADZINE: Wie schwer oder wie leicht wäre es für den jungen Holger S., diesen IT-Job zu bekommen?
Schmidt: Ich habe Volkswirtschaft studiert. Einen IT-Job hätte ich wohl nicht bekommen.
ADZINE: Stichwort „Fachkräftemangel“: Das Thema beschäftigt uns zwar schon einige Jahre, aber warum kommt das gerade jetzt so geballt an? Kleine Challenge: Jedes Mal, wenn du im Folgenden „in Zeiten der Pandemie“ oder „durch die Pandemie“ sagst, musst du fünf Euro ins Phrasenschwein einzahlen.
Schmidt: Die demographische Entwicklung, eine – im internationalen Vergleich – geringe Bereitschaft zur Weiterbildung, verbunden mit einem hohen Nachholbedarf bei Digitalthemen – das kommt jetzt alles zusammen und wird in den kommenden Jahren nicht besser werden. Der Fachkräftemangel wird die digitale Transformation in Deutschland massiv ausbremsen, wenn wir nicht gegensteuern.
ADZINE: In welchen Branchen ist der Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern derzeit am größten? Welche Jobs werden besonders dringend nachgefragt? Geht es vor allem um IT-Berufe?
Schmidt: Da ist die Not am größten. An der TU Darmstadt erfassen wir mit dem digitalen Job-Monitor und dem KI-Jobmonitor alle Stellenausschreibungen in Deutschland – in Stellenbörsen ebenso wie auf 400.000 Websites. Die stärksten Zuwächse beobachten wir seit zwei Jahren in den Bereichen Cloud-Computing, E-Commerce und Online-Marketing. Inzwischen steigt auch die Nachfrage nach Fachleuten für Künstliche Intelligenz wieder an.
ADZINE: Einerseits nehme ich bei der Fachkräftesuche eine gewisse Ratlosigkeit bei den meisten Unternehmen wahr. Andererseits gibt es auch paar „Highflyer“ oder auch Firmen, die sich als solche vermarkten. Wie können Unternehmen im „War for Talents“ wirklich punkten/ihn bestehen? Was sind konkrete Erfolgsfaktoren?
Schmidt: Natürlich ist es für einen Mittelständler nicht einfach, mit einem Jobangebot von Google zu konkurrieren. Aber jedes Unternehmen kann interessante Jobumfelder schaffen: viel Verantwortung, Entscheidungsfreiheit, die Möglichkeit, Dinge groß zu denken und zu machen – ohne verkrustete Strukturen und Management aus der Mottenkiste. Entscheidend ist für viele Talente gar nicht das Geld, sondern eine digitale Kultur und die Möglichkeit zum Gestalten und Lernen.
ADZINE: Employer Branding, Stellenanzeigen auf LinkedIn & Co.: Wenn du eine Schneise in die Maßnahmen schlagen müsstest, die Firmen bei der Suche nach Mitarbeitern umsetzen können – was sind Dinge, die Unternehmen sofort angehen sollten? Oder ist das Thema Fachkräftesuche so komplex, dass du einfach alle verfügbaren Maßnahmen parallel spielen musst, um erfolgreich zu sein?
Schmidt: Das alles und noch viel mehr: Die systematische Weiterbildung der vorhandenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Schaffung eines „lernenden Unternehmens“ sind nach meiner Meinung die größeren Hebel.
ADZINE: Wie kommen mittelständische Firmen an qualifizierte Mitarbeiter, die in Deutschland oft jenseits der Ballungszentren sitzen? Oder ist das durch Homeoffice und Remote Work keine Diskussion mehr, da theoretisch jeder von überall aus arbeiten kann?
Schmidt: Wir werden sicher eine Mischung aus Remote Work und Präsenzarbeit sehen. Dennoch ist das eine Chance für die Unternehmen abseits der Ballungszentren, dezentral arbeitende Teams zu organisieren. Ansonsten gilt: Die Aufgabe muss attraktiv sein, ohne Konzernstrukturen, ohne nervende Hierarchie, ohne Silos.
ADZINE: Das Thema Fachkräftemangel kommt oft daher, als ginge es vor allem um Recruiting neuer Leute: Doch was ist mit den eigenen Mitarbeitern? Werden die vergessen oder nicht richtig befähigt im Sinne von Weiterbildung, um mit den aktuellen Anforderungen Schritt zu halten?
Schmidt: Ja, Weiterbildung ist eine große Baustelle. Deutschland ist das Land mit der merkwürdigen Kombination, dass außergewöhnlich viele Menschen glauben, schon alles zu wissen, gleichzeitig aber große Angst vor der Auswirkung des technischen Fortschritts auf ihre Jobs haben. Das ist keine gute Ausgangslage für das Lernen.
ADZINE: Um gezielt weiterbilden zu können, müssen Unternehmen ihren Bedarf erst mal konkret definieren können und auch die Mitarbeiter sind gefordert: Wo liegen für dich die größten Stellschrauben, an denen Unternehmen und Mitarbeiter hier drehen können und müssen?
Schmidt: Weiterbildung ist Teil der digitalen Transformation. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen wissen, welche Digitalziele das Unternehmen verfolgt und wie ihre Aufgabe auf diesem Weg aussieht. Wenn sie das wissen, benötigen sie zusätzlich die Freiheit und die Mittel, ihre Weiterbildung selbst zu organisieren und in ihre Arbeit zu integrieren. Weiterbildung muss Teil der Kultur des Unternehmens werden.
ADZINE: Kleiner Blick in die Zukunft: Wie zuversichtlich bist du, dass wir in Deutschland die riesigen Herausforderungen beim Thema Fachkräftemangel bewältigen können?
Schmidt: Das wird auf jeden Fall ein dickes Brett. Wir brauchen deutlich mehr Automatisierung und müssen die freiwerdenden Arbeitskräfte weiterbilden. Außerdem benötigen wir wahrscheinlich auch eine intelligente Einwanderungspolitik.
ADZINE: Danke dir für das interessante Gespräch!