Eine Frage des Wollens: Frischer Wind für den HVV
Sandra Goetz, 19. Juli 20212019 war das beste Jahr in der Geschichte des Hamburger Verkehrsverbundes (HVV), dem 25 Verkehrsunternehmen angehören, darunter die Hamburger Hochbahn AG als eines der größten Nahverkehrsunternehmen in Deutschland: 796 Millionen Fahrgäste wurden per Schienen-, Bus- und Schiffsverkehr befördert, das war ein Plus von 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr – Rekord! Die Prognose für 2020 sah hervorragend aus, doch dann kam Corona. Die Fahrgastzahl im HVV lag 2020 dreißig Prozent unter Vorjahresniveau, bis dato hat der HVV, dessen Verbundgebiet Hamburg und die umliegenden Kreise und Landkreise in Schleswig-Holstein und Niedersachsen umfasst, auch noch knapp fünfundzwanzig Prozent seiner Abonnement-Kundinnen und Kunden verloren. Doch statt weiterhin in Schockstarre zu verharren und sich der Pandemie-Tristesse hinzugeben, wurde gehandelt: Seit dem 1. April steht Anna-Theresa Korbutt (41) als erste Frau an der Spitze des 1965 gegründeten HVV. Ein Portrait.
Werdegang
Anna-Theresa Korbutt ist 1979 in Danzig, Polen, geboren und in Paderborn, tiefstes Ostwestfalen, aufgewachsen. Väterlicherseits kommt Anna-Theresa aus einer sehr erfolgreichen Leistungssport-Familie: der Vater war Volleyballnationalspieler in Polen, ihre Tante eine berühmte Kunstturnerin, die viele Goldmedaillen gewonnen hat und einer der Mega-Stars der Olympischen Spiele in München 1972 war. Noch heute gilt sie als lebende Sport-Legende, ihr Name: Olga Korbutt.
Volleyball spielte auch Anna-Theresa Korbutt, mit 175 cm war sie allerdings „zu klein“, um spielerisch an die Spitze vorzustoßen. Mit 16 Jahren wechselte Korbutt zum Standard-Latein-Tanz, eine sportliche Karriere wurde ihr in dieser Disziplin allerdings nicht zugetraut, „zu spät“ angefangen, “zu alt“, keine Ballettausbildung etc. Mit 18 Jahren war Korbutt im Landes-Tanz-Kader – später im Deutschen Kader, bis 2014 tanzte die Ostwestfälin erfolgreich als Profi-Tänzerin auf internationalem Parkett. „Es ist alles eine Frage von Willen und Wollen“, so das Lebenscredo von Anna Theresa Korbutt.
Das Erfolgs-Doppel intrinsische Motivation, auch unter dem Namen Leidenschaft bekannt, und Disziplin ist somit etwas, das der 41-Jährigen in die Wiege gelegt wurde. Nach dem Besuch eines katholischen Mädchengymnasiums und dem Studium der Betriebswirtschaftslehre sowie einem Master-Abschluss in International Economics an der Uni Paderborn hatte Korbutt einen coolen Job samt Arbeitsvertrag in der Tasche: Bei AOL in Hamburg sollte sie im Bereich International Strategy arbeiten (Ende 2004).
Die Uni-Absolventin war auf dem Rückweg von Alster und Elbe nach Paderborn, und saß im DB-Bordbistro, als der Zug eine Vollbremsung machte. – Und sich das Weizenbier ihres Tischnachbarn über Anna-Theresa Korbutt ergoss. - Um eine lange Geschichte kurz zu erzählen: Das war’s mit AOL, denn ihr Gegenüber war der stellvertretende Leiter des Inhouse Consulting der Deutschen Bahn (DB) – Korbutt wurde abgeworben und ging in die Konzernzentrale nach Frankfurt. Nach diversen Stationen und Verantwortlichkeiten, u.a. Bahncard, wurde sie 2007 eine der jüngsten Führungskräfte der DB und übernahm den Bereich „Marketing, Strategie und Planung“ von Dr. Martell Beck, der Jahre später Bereichsleiter Marketing und Vertrieb der BVG werden sollte.
Selbst ist die Frau, mangels weiterer Karrierechancen kündigte Anna-Theresa Korbutt ihren Job bei der DB und fand eine neue berufliche Herausforderung in der Schweiz, im harten Eisenbahnergeschäft der BLS AG in Bern, ebenso ein männlich dominiertes Verkehrsunternehmen. Auch hier wusste Korbutt, sich durchzusetzen. Wie auch in ihrer nächsten Karrierestation.
In Wien war sie für die ÖBB (Österreichische Bundesbahnen) Personenverkehr als Leiterin für die Unternehmensentwicklung und danach für die Konzernstrategie verantwortlich. Zuletzt war die Mutter zweier Kinder die Geschäftsführerin der ÖBB-Tochter Q-Logistics. Hier hat sich die Powerfrau einen Namen als Saniererin gemacht und das auf Stückgut spezialisierte Unternehmen erfolgreich an die börsennotierte Mutares SE & Co KG verkauft.
ADZINE: Sie sind die erste Frau, die an der Führungsspitze des HVV steht. Wie sind Sie zum HVV gekommen?
Anna-Theresa Korbutt: Ich bin sehr aktiv in Business-Netzwerken unterwegs. Auf Xing sah ich eine Stellenausschreibung des HVV mit der vakanten Geschäftsführungsposition. Ich habe meinen Lebenslauf hingeschickt und wurde einen Tag später angerufen. Es gab die ersten Videotalks, zwei Gespräche direkt vor Ort, meine damals wenige Wochen alte Tochter war dabei, sieben Monate später war mein erster Arbeitstag. Im Herbst ist der Umzug von Wien nach Hamburg vollzogen, dann ist auch meine Familie da.
ADZINE: Was ist das Spannende am digitalen Marketing?
Anna-Theresa Korbutt: Die Geschwindigkeit und das Know-how, das sich aus den Daten rausziehen lässt, finde ich spannend. Ebenso, dass man so dicht an der Kundin und am Kunden ist. In kurzen Abständen lassen sich sehr differenziert unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, ebenso kann man sehr viel an Maßnahmen ausprobieren, ganz wichtig finde ich die emotionale Kundenanspreche. Und was das virale Marketing betrifft – mit Print-Medien würde ich diese Form der emotionalen Kommunikation nicht mit diesem Impact hinbekommen.
ADZINE: Was sind die Marketing-Herausforderungen des ÖPNV in D-A-CH?
Anna-Theresa Korbutt: Eine der größten Herausforderungen besteht in der Akzeptanz des Marketings, egal, ob in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Bei Coca-Cola, Porsche, Adidas oder Nivea/Beiersdorf braucht man niemanden von der Wichtigkeit des Marketings überzeugen. In der ÖPNV-Branche sieht das anders aus, hier gibt es zum einen große Vorbehalte gegen „bunte Bilder“, zum anderen glaubt man, dass der Mensch fährt, wenn das Angebot da ist. Dabei wird sich die Frage, woher die Kundschaft wissen soll, welche Angebote es gibt, zu selten gestellt. Übersehen wird, dass Werbung/Marketing in unserer Welt omnipräsent ist, ebenso, dass Menschen jeden Tag eine neue Verkehrsmittelwahl treffen: Abo oder nicht? Wenn ja, welches? Steige ich heute aufs Fahrrad, nehme ich das Auto, nutze ich Carsharing, nehme ich den Bus oder das Taxi, kombiniere ich meine Verkehrsmittel? Um die Kundschaft bei der Verkehrsmittelwahl abzuholen, brauch ich digitale Kanäle und ich brauche bunte Bilder.
ADZINE: Der HVV hat 25 Prozent seiner Abo-Kundschaft verloren, in anderen Städten sieht es beim ÖPNV nicht besser aus …
Anna-Theresa Korbutt: Wer aus dem Marketing und Vertrieb kommt weiß, dass es viel teurer ist, neue Kundinnen und Kunden zu gewinnen, als diese zu halten. Die Covid-19-Pandemie hat hier eine große Schwachstelle des ÖPNV aufgedeckt, dabei hat der HVV die Wichtigkeit der Kundenrückgewinnung erkannt. Allerdings wird es nicht ausreichen, auf Bauzaunwerbung zu setzen, was sich generell ändern muss, ist eine Änderung des Mindset, die generelle Akzeptanz von Marketing. Nicht nur Coca-Cola oder Adidas-Turnschuhe sind Konsumprodukte, auch der ÖPNV ist ein Konsumprodukt, und die Kundinnen und Kunden müssen entsprechend umworben, angesprochen und gehalten werden.
ADZINE: Ist das Marketing der BVG ein Vorbild?
Anna-Theresa Korbutt: Die preisgekrönte Kampagne des BVG „Weil wir dich lieben“ ist natürlich präsent und gilt überall als riesengroßes Vorbild. Es gibt auch so eine Art Battle zwischen BVG und HVV, wer die Nase vorn hat, Berlin oder Hamburg. Doch auch hier gilt: Die BVG hat sich unter Dr. Martell Beck getraut, eine neue Kommunikationsstrategie zu verfolgen. Dafür wurde ein aktives und innovatives Marketing aufgebaut, das alle möglichen digitalen Kanäle inklusive Social Media intelligent bis schrullig und frech zu nutzen wusste.
Zugleich ging die Pressearbeit mit den Marketingaktivitäten Hand in Hand, es wurde mit spritzigen Werbeagenturen zusammengearbeitet, selbst die New York Times hat über BVG-Aktionen geschrieben. Seitdem ist das Marketing der BVG State of the Art im deutschen ÖPNV. Martell Beck ist jetzt übrigens bei der DB Cargo und setzt auf die gleichen Erfolgsstrategien seiner BVG-Zeit, mit dem Ziel, die dröge DB Cargo, das Logistikunternehmen der Deutschen Bahn, sexy zu machen.
ADZINE: Was kann der HVV von Ihnen erwarten?
Anna-Theresa Korbutt: Ich bin nicht die Inkarnation eines Staatskonzerns, ich finde es schrecklich, nur zu verwalten. Der HVV und die unterschiedlichen Player vor Ort, allen voran die Behörde für Mobilität und Verkehrswende, wissen, wen sie sich eingekauft haben, ich suche die Challenge und ich bin auch laut. „Wenn ihr Veränderungen sucht, dann ruft mich an“, das ist eines meiner Mottos. Und wenn ich nicht angerufen werde, kümmere ich mich selber um Veränderung.
Ich freue mich, dass mir der HVV als Geschäftsführerin die Gelegenheit zur Um- und Neugestaltung auch des Marketings gibt und ohne viel im Voraus preis zu geben, setze ich dabei auf Coolness-Faktor. Der Tanker nimmt Fahrt auf, Anfang September wird es zum ersten Mal konkret. In 2022 wird unsere Kommunikation geschlossener sein, unser Herzstück sind unsere Kundinnen und Kunden, die wollen wir neu erreichen. Mit Inhalt, mit tollen bunten Bildern und mit einem hervorragenden Team.
ADZINE: Liebe Frau Korbutt, wir danken für das Gespräch und sind auf das digitale Marketing des HVV gespannt.