Addressable TV (ATV) wird oftmals als Fernsehwerbung der Zukunft bezeichnet, dabei wissen viele Marktteilnehmer gar nicht, was es damit genau auf sich hat und wo beispielsweise der Unterschied zu Connected TV (CTV) liegt. Welche Werbeformate bietet dieses Feld überhaupt und kann TV tatsächlich schon in die kanalübergreifende Mediaplanung integriert werden? In einer aktuellen Folge von ADZINE Live diskutierten wir gemeinsam mit Experten darüber, was hinter ATV steckt und was es Werbetreibenden zu bieten hat.
Von Agenturseite aus war Clara Diehl, Director Productdevelopment and Business Transformation bei Pilot, mit an Bord. Sie hat das Thema ATV bei der Hamburger Agenturgruppe vor zwei Jahren übernommen, “als es noch ein zartes Pflänzchen war”, und konnte beobachten, dass sich die Budgets, die von Marken einfließen, mittlerweile versechsfacht haben. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass Pilot Standardisierungen in das Produkt ATV gebracht hat, um es einheitlicher zu gestalten. Beispielsweise hat die Agentur Buchungswege mit Vermarktern abgeklärt, um die Werbung effizient auszusteuern.
Switchins vs. ATV-Spots
Diehl erklärt, dass inzwischen circa 25 Prozent der TV-Haushalte in Deutschland, also 12 Millionen Geräte, mit einem Switchin-Format zu erreichen sind. Dies meint ein Bannerformat, welches sich dank der Einbindung eines Adservers beim Umschalten über das lineare Programm legt, und programmatisch buchbar ist. Die Switchins machen digitale Kontaktstrategien möglich, sodass beispielsweise Umfeld-Targeting und Geoansätze statt regulärer, breiter Ausstrahlung realisierbar sind. Anbieter hierfür ist die D-Force, ein Vermarktungs-Joint-Venture der Mediengruppe RTL und ProSiebenSat.1, das die übergreifende Kampagnenausspielung und -messung über die Sender der beiden Medienhäuser erlaubt.
Noch interessanter sind jedoch die ATV-Spots, die Bewegtbild in die linearen Werbeblöcke bringen. Diese sind laut Diehl noch nicht programmatisch buchbar, Targeting und Cross-Device befinden sich noch in der Entwicklung, wobei Corona die Arbeit daran nicht gerade beschleunigt hat. Außerdem seien die Platzierungsmöglichkeiten und die Reichweite sehr eingeschränkt. Die ATV-Expertin fordert daher eine Öffnung des Marktes: “ATV kommt aus der TV-Welt, aber wir müssen aufhören, es als TV-Thema zu sehen, sondern in die digitale Welt überführen und wie ein digitales Format behandeln”, so Diehl.
Technische Umsetzung von ATV-Spots
“Das Abspielen eines Videos ist sehr viel komplexer als der Banner”, stellt Johannes Thyssen von ProSiebenSat.1 eingangs klar. Er arbeitet in der Tech-Sparte des Konzerns und ist an der Weiterentwicklung des ATV-Spots beteiligt. 5 Millionen deutsche TV-Geräte sind laut seiner Aussage mit einem digitalen Bewegtbild-Spot erreichbar. Dieser werde wie das Switchin auf der Basis des HbbTV-Standards ausgeliefert, also auf Smart-TV und verbundenen Set-Top-Boxen, perspektivisch sollen PC, Laptop und Smartphone hinzukommen. Sein Kollege Kai Prohaska, Director Addressable TV bei der Sevenone Media, erklärt, dass der ATV-Spot einen anderen Standard von HbbTV voraussetzt als das Switchin, wobei 5 Millionen die Anzahl der Geräte darstellt, die bereits auf die entsprechende Version geupdatet wurden.
Und so kommt der digitale Spot ins lineare TV: Beim Werbeopener, der den Werbeblock im Programm ankündigt, wird das Signal vom linearen TV zum Smart-TV in einen digitalen Stream verwandelt, der den gesamten Werbeblock spiegelt. Manche der Spots, die in dem linearen Block geplant sind, können dann digital überlagert werden – allerdings betrifft dies nur das Inventar aus dem eigenen Medienhaus, also Werbung für Unternehmen aus dem ProSiebenSat.1-Portfolio. Darunter befinden sich unter anderem Advertiser wie Verivox, Parship oder Gimondo, insgesamt über 45 Unternehmen, “um für Inventar zu sorgen”, wie Prohaska betont. Die Metadaten der Planung werden an den Adserver gegeben, der dann feststellt, was überlagert werden darf, und was nicht. Dabei gehe es auch darum, dass etwa keine zwei Autospots von Wettbewerbern in einem Block laufen dürfen. “Eine holistische Entscheidung treffen”, nennt Thyssen das. “Wir ersetzen keine TV-Spots, sondern wir überblenden einen vorhandenen Spot!”, ergänzt sein Kollege Prohaska. "Durch diesen Überblendungsprozess befinden wir uns nicht im Rundfunkstaatsvertrag, der im klassischen TV die Regionalisierung verbietet, sondern wir befinden uns nach der Auffassung unserer Medienhäuser im Telemedium – und da ist es sehr wohl erlaubt.”
Gut Ding will Weile haben
Bevor jedoch ein Spot überblendet werden kann, muss das Inventar erstmal gekauft werden. An dieser Stelle kommt die Supply-Side-Plattform von Freewheel ins Spiel. Das Unternehmen, das zu Comcast gehört und in Deutschland mit Sevenone, Sky und den Sendern von Viacom zusammenarbeitet, hat den Weg der Medienhäuser zu ATV mit geebnet. Marc Lauriac, Senior Director Customer Success & Business Development bei Freewheel, mahnt vorsichtig zu sein, das Fernsehen in Richtung Programmatic zu bewegen. Es brauche Strukturen und mehr Zeit, um Programmatic “im Wohnzimmer” zu realisieren. “Es geht darum, das TV-Erlebnis nicht kaputtzumachen”, so Lauriac. Fehler dürfen auf diesem Bildschirm nicht passieren, schließlich ist dies eine gänzlich andere Situation als beispielsweise am Desktop-PC. Sein Unternehmen hat das technologische Fundament behutsam aufgebaut.
Deutschland im Bereich ATV vorne
Dennoch ist sich Sebastian Busse, Director Addressable TV International beim RTL-Vermarkter und Adtech-Anbieter Smartclip, sicher: “Im Bereich ATV sind wir weiter fortgeschritten als die anderen Länder”. Er ist dabei, ATV unter anderem auch in Frankreich, Spanien und Italien zu etablieren. Außerdem solle man sich trotz des scheinbar langsamen Vorankommens und den Herausforderungen, welche die Buchung mit sich bringen, mal vor Augen halten, was in den vergangenen fünf Jahren schon alles passiert sei. Wir sprächen immerhin über “die Transformation des Fernsehens”. ATV ist Busses Ansicht nach heute bereits in den Mediaplänen etabliert.
Mit Walled Gardens in die ATV-Zukunft?
Ein etwas unangenehmer Aspekt auf der technischen Seite, den die Speaker gekonnt umgehen, ist die Tatsache, dass das Inventar von RTL und ProsiebenSat.1, welches von der D-Force programmatisch zugänglich gemacht wird, in Deutschland nur von einer einzigen Demand-Side-Plattform eingekauft werden kann. Und an der ist ProsiebenSat.1 beteiligt.
Johannes Thyssen bringt es auf den Punkt: “Ja, das ist ein Walled Garden.” Daten und Inventar lägen komplett hinter geschlossenen Türen. Aber Kai Prohaska erklärt: “Die Daten, auf denen wir sitzen, sind so sensibel. Wenn wir die an Google geben, können wir auch gleich den Senderschlüssel mit abgeben.” Er prognostiziert, dass wir in Zukunft vermehrt europäische TV-Allianzen sehen werden, also Sendergruppen, die sich zusammenschließen. So soll die Datenhoheit bei den Sendern bleiben und nicht etwa an Google übertragen werden. Er prophezeit weiterhin, dass die ATV-Spots in Deutschland bald vermarkterübergreifend an den Start gehen und Kampagnen auch geräteübergreifend in beide Richtungen verlängert werden können. “Das war ein riesen Brett, das wir technisch bohren mussten. Die Früchte davon werden wir aber jetzt bald sehen”, meint Prohaska (...und einen Tag später sollte es so kommen).
Advertiser können sich den Experten zufolge auf weitere Walled Gardens in der TV-Landschaft einstellen, die einerseits vermarkter-, aber auch kanalübergreifende ATV-Werbung anbieten werden. Das Reporting soll sich ebenfalls verbessern, sodass Agenturvertreter wie Diehl den ersehnten Rückkanal bekommen. Das Reporting hinke bei aller Transformation immer ein wenig hinterher, gesteht Prohaska.
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