Der deutsche Digitalwerbemarkt als Change-Kurve – ist Erholung in Sicht?
Benedict Gründig, 25. Juni 2020Es ist die erste wirkliche Talfahrt in 20 Jahren Digitalwerbung. Auch nach der Euphorie der 2000er Jahre hat der digitale Werbemarkt, abgesehen von vereinzelten Hochs und Tiefs, im letzten Jahrzehnt kontinuierlich zugelegt. So verzeichnete der Online-Vermarkterkreis OVK 2019 ein Jahreswachstum im Display Advertising um zehn Prozent, von netto 3,267 auf 3,613 Milliarden Euro. Und bei allen Herausforderungen, mit denen sich das digitale Werbegeschäft gerade konfrontiert sieht – ohne die Corona-Pandemie hätte sich das Wachstum vermutlich ungehindert fortgesetzt.
Wir alle wissen nur zu gut, dass es anders kam. Seit der zweiten Märzwoche befindet sich die deutsche Publisher-Landschaft in einem Ausnahmezustand. Während sich die Websitebesuche auf einem Allzeithoch befinden, sind die Werbeerlöse im Frühjahr rapide gefallen. Nun sind seither bereits drei Monate vergangen und erste Marktteilnehmer äußern Hoffnungen, dass sich die Werbespendings bald wieder erholen könnten. Wir bewerten im Folgenden diese Einschätzung anhand einer eigenen Auswertung über 40 deutsche News-Quellen hinweg und geben drei Empfehlungen an Publisher, die in dieser Zeit bestmögliche Ergebnisse erzielen wollen.
Am Anfang war der Schock: Corona-Spendings und die Change-Kurve
Geradezu sprunghaft stiegen die Seitenaufrufe von Online-Nachrichtenquellen um den 14. März 2020 herum an – an dem Tag, an dem die Bundesregierung Schulschließungen verkünden und die Deutschen zum Social Distancing aufrufen musste. Ab diesem Zeitpunkt stiegen die Requests für 40 große deutsche Nachrichtenseiten im Vergleich zum Januar dieses Jahres um 120 bis 140 Prozent an. Erst mit dem Lockdown Ende März, der verlässliche Regeln für deutsche Bundesbürger brachte, gingen die Aufrufe zurück, derzeit befinden sie sich im Schnitt bei einem Plus von 60 Prozent. Gleichzeitig hat sich mobiler Traffic via App und Mobile Web als Reichweiten-Booster für Medienmarken etabliert: Mobiler Web-Traffic steigt im Schnitt um zehn Prozent stärker als Desktop-Traffic.
Die Werbeerlöse fielen jedoch und mit ihnen die Preise, die Publisher für ihr Inventar aufrufen konnten. So haben wir festgestellt, dass der TKP (Tausenderkontaktpreis) ein ausgezeichneter Indikator für das aktuelle Auf und Ab im Online-Werbemarkt ist. Und der fiel über 40 Top-Publisher hinweg zu Corona-Spitzenzeiten um bis zu 40 Prozent, bevor er sich im April bei einem Minus von 30 Prozent einpendelte. Der größte Verlierer dabei ist Video mit einem Rückgang von bis zu 60 Prozent – App Advertising hingegen hat einen deutlich moderateren Rückschritt um bis zu 25 Prozent verzeichnet und liegt derzeit knapp 20 Prozent unter der Norm. Auch native Ad-Formate befinden sich jetzt einem um 20 Prozent niedrigeren Niveau im Vergleich zum Januar 2020.
Setzen wir diesen plötzlichen Fall in Verbindung mit der Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte, ergibt sich eine Kurve, die vielen bekannt sein dürfte: Die erste Hälfte der Change-Kurve, die bei plötzlichem Wandel in Systemen herangezogen wird. Anders gesagt: Nach Jahren der Euphorie und der Hinnahme des gewohnten Wachstums kam der plötzliche Schock (Corona) und mit ihm die Reaktion – der Budgetstopp.
Status quo: Im Tal der Tränen angelangt
Inzwischen spricht vieles dafür, dass sich der Markt im Tal der Tränen befindet. Denn die branchenweiten Budgetreduzierungen traten zwar mit nur wenig Verzögerung im März ein, bislang hat sich der Markt allerdings nicht erholt: Während Lockerungen Ende April und Mitte Mai für sinkende Traffic-Werte sorgten, verharrt der TKP seit Wochen circa 30 Prozent unter dem Normalniveau. Bleibt die Frage: Wann geht es wieder aufwärts?
Auch wenn wir nicht erwarten sollten, dass der Werbemarkt bald wieder zur gewohnten Normalität zurückkehrt, lassen erste Anzeichen hoffen, dass sich der Anzeigenpreis und das Yield Management auf deutschen Newsseiten in den nächsten Wochen erholen könnten. Südkorea hatte ebenso wie der deutsche Werbemarkt mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen und wurde zivilgesellschaftlich deutlich härter getroffen als Deutschland. Inzwischen sind die Vorsichtsmaßnahmen in der Region seit einigen Wochen gelockert – und unsere Erkenntnisse dort zeigen eine erste Tendenz in Richtung Erholung der TKPs.
Alles auf Neuanfang: Drei Tipps für Publisher
Hierzulande lassen Gespräche mit Publishing-Partnern und der Demand Side auf eine baldige Erholung schließen. Immer häufiger wird berichtet, dass Werbebudgets hochfahren und partnerschaftliche Gespräche über Kampagnen wieder aufgenommen werden. Ausgenommen sind Branding-Budgets – hier berichten die Experten noch immer von Einschnitten.
Publisher können in dieser Zeit einiges tun, um ihr Geschäft mit mehr Nachdruck anzuschieben und die Markenpartner auf eine mögliche zweite Corona-Welle vorzubereiten. Anhand der letzten Wochen und Ergebnisse aus anderen Märkten haben wir drei Kernempfehlungen abgeleitet:
1. Das Angebot täglich auf den Prüfstand stellen
Wie jeder andere Markt, können auch Publisher derzeit nur „auf Sicht navigieren“. War es also zu Zeiten der Budgetkürzungen dringend angeraten, die Floor-Strategie für die eigenen Werbeflächen so anzupassen, dass man noch immer möglichst viele Budgets erhält und das Inventar entsprechend auslastet, so sollten Publisher diese Maßnahmen nun von Tag zu Tag neu bewerten. Unsere Marktpartner berichten beispielsweise noch immer von gekürzten Branding-Budgets. Native-Formate hingegen, die oft für Performance-Kampagnen genutzt werden, haben sich teilweise wieder erholt. Auch ein Blick auf die eigenen Blacklisting-Regeln lohnt sich. Derzeit nutzen auch potenzielle Kunden die freien Werbeflächen und erhöhen ihre Werbegelder dafür, die mitunter auch zu den geblockten Produktkategorien gehören können – Finanzen und Versicherungen zum Beispiel.
2. Die App-Monetarisierung stärken
Das stabilste Segment seit Mitte März war und bleibt App-Advertising. Die TKPs der Werbeflächen in Apps sind zwar auch um rund 20 Prozent zurückgegangen, liegen aber damit noch immer deutlich über der Entwicklung von Video- oder Web-Display-Formaten. Publisher sollten also kurzfristig den Fokus auf den Reichweitenausbau und das Yield Management ihrer App-Angebote legen. Letzteres lässt sich mit dem Wechsel vom Wasserfallmodell auf Header-Bidding deutlich optimieren. Da in den vergangenen Wochen parallel dazu vor allem der mobile Web-Traffic einen Anstieg verzeichnete – die Deutschen haben mehrmals täglich mobil die Nachrichten im Blick behalten –, sollte auch dieser bestmöglich genutzt werden. Wer also auch sein klassisches Header-Bidding-Setup auf mobile Aufrufe hin optimiert, alle verfügbaren Formate aktiviert und seine Timeouts entsprechend der langsameren Datenverbindungen gestaltet, macht das meiste aus dem mobilen Traffic.
3. Markenpartnern neue Möglichkeiten aufzeigen
Videoinventar ist von allen Formaten am stärksten vom Rückgang betroffen, kommt allerdings bezogen auf den TKP auch von einem sehr hohen Normalniveau. Da sich dieses Segment aufgrund der hohen Kosten vor allem aus den reduzierten Branding-Budgets speist, sollten Publisher die freien Inventaroptionen vor allem Neubuchern anbieten. Diese haben bislang bei den hohen Videoinventarpreisen gezögert – und können nun durch besonders attraktive Deals testen, was Bewegtbild für sie leisten kann. So lasten die Medienseiten nicht nur kurzfristig ihr vorhandenes Inventar aus, sondern erhöhen mittelfristig auch den Wettbewerb auf Nachfrageseite.
Ein Tipp bleibt zum Schluss: Den Mut bewahren! Wir sehen, dass es aufwärts geht. Der deutsche Digitalwerbemarkt hat die Talsohle erreicht und sich dort stabilisiert. Nun heißt es abwarten, beobachten und bei steigender Nachfrage die TKPs nach oben anpassen, um die eigenen Werbeflächen bestmöglich zu nutzen.
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