Growth Marketer sind wie Einhörner: "Wenn Du eins hast, halte es!"
René Weber, 13. Januar 2020Gute Optimierer schieben auf Websites nicht nur Buttons hin und her oder freuen sich darüber, wenn durch Preissenkungen die Konversionsrate nach oben schnellt. Für André Morys, Founder und CEO von Konversionskraft, ist ein exzellenter Growth Marketer dagegen vor allem ein guter Manager, analytisch und mit großem Verständnis für Customer Experience und Kundenorientierung. Im Interview skizziert André die zentralen Herausforderungen seines Jobs, gibt uns Einblicke in seine Agentur und verrät, warum für viele Unternehmen Kundenzentrierung immer noch ein leidiges Unterfangen ist.
ADZINE: Hallo André, die Arbeitswelt wandelt sich rasant. Du bist Konversionsoptimierer. Also jemand, der sich – salopp gesprochen – damit beschäftigt, inwiefern die Verschiebung eines Buttons auf der Website um 2 mm zu einer Steigerung der Konversionsrate führt. Aber klär uns doch mal bitte auf: Was verstehst du persönlich unter Konversionsoptimierung? Wie hat sich dein Job in den letzten Jahren verändert?
André Morys: Hi, schön dass ich dabei sein kann. Ich mag ja den Begriff Konversionsoptimierer nicht. Verstehe mich bitte nicht falsch – tatsächlich haben Optimierer im letzten Jahrzehnt noch geglaubt, man könne mit der Veränderung eines Buttons etwas erreichen. So funktioniert es natürlich nicht. Andere wiederum sagen völlig korrekt, für bessere Conversion Rates müsse man ja einfach nur den Preis senken und nichts an der Website ändern. Auch wenn das stimmt, ist der Begriff Konversionsoptimierung inzwischen aus meiner Sicht überholt.
In Wirklichkeit geht es doch darum, betriebswirtschaftlichen Erfolg kontrollieren zu können. Dafür gibt es viele andere Begriffe, die das ganze besser beschreiben, wie zum Beispiel agile Produktentwicklung, Growth Marketing, Customer Experience Management, etc. Ich selbst habe mal den Begriff “Growth Engineering” als Gegenentwurf zum polarisierenden Begriff “Growth Hacking” in den Ring geworfen.
Worum geht es eigentlich? Unternehmen müssen besser und schneller lernen, wie ihre Kunden ticken und was sie wirklich wollen, wie man sie anspricht, wie man sie besser überzeugt etwas zu kaufen. Dieses Lernen basiert auf dem Durchführen von Experimenten (salopp: A/B-Testing) im Rahmen eines im Unternehmen implementierten Prozesses. Dafür braucht es Budget, Verantwortlichkeiten, das richtige Team, die richtige Kultur/Mindset und auch die richtigen Skills.
ADZINE: Welches Mindset und welche Skills muss ein guter “Growth Engineer” denn eigentlich mitbringen? Könnte das jeder, wenn er sich eine Weile mit der Materie auseinandersetzt?
Morys: Zunächst einmal ist ein gut laufender Optimierungsprozess ja ein Teamsport. “Den einen Optimierer” gibt es nicht – aber im Idealfall gibt es eine Person, die für die Optimierungsprozesse verantwortlich ist. Diese Person hat viele Aufgaben:
- Produktteams und Marketing-Kollegen für echte Kundenzentrierung begeistern (wer nicht versteht, wie Kunden denken und handeln, der kann deren Verhalten auch nicht beeinflussen)
- Für eine hohe Qualität bei Optimierungsideen sorgen (oft gibt es viele Ideen - aber zu wenig gute Ideen. Die meisten Analysemethoden werden falsch eingesetzt und deren Resultate sind zu oberflächlich)
- Die Resultate korrekt interpretieren und die Erkenntnisse im Unternehmen verbreiten (die meisten Testanalysen sind alleine schon aus statistischen Gründen falsch, meist wird sich zu stark auf die Tools verlassen – die meisten Stakeholder im Unternehmen haben jedoch keine Ahnung von den Hintergründen zur Statistik und missbrauchen die Ergebnisse)
- Den Optimierungsprozess als solches optimieren (es wird ja ein betriebswirtschaftlich relevanter Einfluss dieses Prozesses auf die Finanzkennzahlen des Unternehmens erwartet - das klappt natürlich nicht, wenn man nur auf “Engagement” und “Micro-Conversion-Rates” testet)
Alles in allem ist so eine Person ein guter Manager, analytisch und mit großem Verständnis für CX (Customer Experience) und Kundenorientierung. Diese Person muss für einen erfolgreichen Prozess wirksam viele wichtige Stakeholder beeinflussen – ohne gute Führungsskills und ein Growth Mindset wird das nicht funktionieren. Zusätzlich hilft Wissen im Bereich Konsumpsychologie, Neuromarketing und Behavioral Economics. Uber, Facebook und andere Unternehmen bauen gerade ihre Behavioral Sciences Teams, weil sie gelernt haben, dass das Verstehen von Kundenverhalten der Kern für den Erfolg ist.
Man könnte sagen: Gute Optimierer sind eher Einhörner – wenn Du eins hast, dann halte es!
ADZINE: In eure Arbeit fließen auch psychologische Elemente ein: Beispielsweise nutzt ihr Limbic Maps, um die Bedürfnisse von Konsumenten besser zu verstehen. Setzt ihr solche oder andere Raster auch für das Recruiting ein, um die passenden Leute für euch zu identifizieren?
Morys: Für viele Marketer geht leider eine wichtige Erkenntnis verloren: Wir alle wollen das Kundenverhalten ändern. Es wird jedoch in anderen Dimensionen gedacht und gearbeitet: Segmente, Kanäle, CPO und KUR – das sind alles oberflächliche Sichtweisen, die den Kern unserer Arbeit verfehlen, nämlich den Kunden und sein Verhalten zu verstehen und zu unseren Gunsten zu verändern.
Um aus diesem Dilemma heraus zu kommen, müssen wir theoretisch in das Gehirn des Kunden schauen und verstehen, warum das Verhalten so ist, wie es ist. Warum gibt ein Kunde ein bestimmtes Keyword ein? Was sucht jemand wirklich? Was für alternative Verhaltensweisen gibt es, die nicht zu einer Konversion führen? Was lässt den Kunden klicken, was führt zum “Zurück-Button” im Browser? “Always start with the customer and work backwards”, hat Steve Jobs einmal gesagt und er meint damit, dass im Zentrum jeder Kundenentscheidung Motive, Ängste und Erwartungen stehen, die wir kennen müssen.
Da man nicht jeden einzelnen Kunden tiefenpsychologisch verstehen kann, arbeiten wir mit Modellen und Methoden. Limbic® als System zum Beispiel lässt uns die impliziten Erwartungen von Kunden auf unterbewussten Ebenen verstehen, die Arbeit mit Behavior Patterns (also konsumpsychologischen Verhaltensmustern und kognitiven Verzerrungen) hilft uns, Entscheidungen besser zu verstehen.
Und um zur eigentlichen Frage zu kommen: in gewissem Maße setzen wir ähnliche Tools auch bei der Entwicklung unserer Teams ein. Jeder Mensch hat bestimmte Präferenzen – auch bei Arbeitsweisen. Wer leistungsstarke Teams haben will, der sollte das berücksichtigen, daher arbeiten wir mit dem sogenannten “TMS - Team Management System” und bringen unseren Kollegen bei, die Unterschiede in den Präferenzen nicht nur zu kennen, sondern sogar wertzuschätzen. Im Recruiting funktioniert das nicht, die Tests sind zu leicht manipulierbar – aber wir möchten in Bewerbungsgesprächen immer als erstes den Menschen kennenlernen, der uns gegenüber sitzt, seine Motivation und seine Präferenzen und Ziele.
ADZINE: Welchen Praxistipp hast du für Marketer parat, die sich intensiver mit Konversionsoptimierung beschäftigen wollen?
Morys: Ich würde gerne drei konkrete Tipps geben:
- Investiere mehr Zeit und Aufwand, um Kundenverhalten wirklich zu verstehen. Bekämpfe die Oberflächlichkeit und Zahlengetriebenheit der meisten Unternehmen und ersetze sie durch echte Kundenzentrierung. Das ist nicht leicht, weil es immer mehr Aufwand ist - aber mit den richtigen Zahlen lässt sich beweisen, dass es sich lohnt. Das bringt mich zum zweiten Tipp:
- Miss immer die Resultate. Alles, was Du veränderst ohne das Resultat zu messen, verhindert eine womöglich wertvolle Erkenntnisse. Viele Teams verschwenden ihre Zeit darauf möglich viel möglichst effizient zu machen. Dabei ist Effektivität ein meist noch größerer Hebel. Also lieber “das richtige tun” statt schneller und mehr zu arbeiten. Wer nicht misst, was funktioniert und was nicht, der verpasst diese Chance.
- Habe mehr Mut für kontrastreiche Veränderungen. Leider verhindert meist die Kultur vor allem größerer Organisationen diese wichtige Grundlage für gute Experimente. Es gibt immer jemanden, der dagegen ist oder einfach nur die Idee verwässert. Ohne Mut keine Resultate. Das Ganze gepaart mit dem richtigen System oder Prozess, um auch wirklich wirksame Veränderungen umzusetzen, wird immer funktionieren. Es kommt nur auf die Anzahl der Versuche oder Experimente an, bis Du mit Erfolg belohnt wirst.
ADZINE: Ich feiere jedes Jahr dieses Feature auf der Website Eures Growth Marketing Summits, wo ich während der Eingabe der persönlichen Daten beim Kartenkauf rechts auf der Seite live erlebe wie mein Badge aussehen wird. Ich könnte weitere Beispiele aufzählen. Wie viel Kreativität muss man in deinem Beruf mitbringen?
Morys: Das freut mich, denn das Ganze ist eher das Resultat von Systematik als Kreativität. Warum? Der Grund dafür, dass es Dir Spaß macht, ist ein bekanntes kognitives Muster, also ein Behavior Pattern namens “Preview”. Menschen sehen gerne das Ergebnis ihrer Bemühungen – in diesem Falls das Badge. Natürlich muss das alles auch gut und kreativ umgesetzt werden, damit es wirklich Spaß macht, aber im Kern steht auch hier das Verstehen menschlichen Verhaltens.
ADZINE: Wie ist dein persönlicher Blick auf die Welt: Nimmst du überall Dinge wahr, die man optimieren könnte? Kannst du dich privat von deinem Beruf freimachen oder bist du auch außerhalb der Arbeit ein Optimierer? Also jemand, der per App beispielsweise die Qualität seines Schlafs überwacht?
Morys: Gute Optimierer hinterfragen immer den Status Quo und sind neugierig, was die Ursachen dafür sind. Das gilt tatsächlich für jeden unabhängig von Job oder Privatleben. Also auch bei mir im Privaten versuche ich immer wieder, die Dinge zu verstehen um sie verändern zu können. Schlaftracking gehört nicht dazu, aber in anderen Bereichen wie zum Beispiel Home Automation oder Elektromobilität bin ich tatsächlich anfällig für Optimierung im Privatleben.
ADZINE: Was sind größten Fails bei der Konversionsoptimierung, die ihr bei euren Kunden bisher erlebt habt?
Morys: Das ist eine Frage, über die man zum Ende des Interviews noch weitere 20 Seiten schreiben könnte. Ich würde zu allem, was ich oben bereits erzählt habe, noch eines ergänzen:
Das Management der meisten Unternehmen oder Teams verpasst die Chance, durch gutes Experimentieren die Teams und Mitarbeiter an echten Fortschritten zum Unternehmenswachstum beitragen zu lassen. Das führt zu schlechten Resultaten, oberflächlichen Initiativen und Projekten, unzufriedenen Mitarbeitern. Es geht also um viel mehr als einfach nur eine Methode wie A/B-Testing oder Konversionsoptimierung. Es ist eher eine Chance die Arbeitsweise von Unternehmen und von Teams so zu ändern, dass sie wirksamer werden.
ADZINE: Kleiner Blick in die Zukunft: Wie wird dein Job in 20 Jahren aussehen? Übernimmt dann nicht vielleicht eine Maschine vollautomatisch die Konversionsoptimierung? Welche Art von Mitarbeitern bräuchtet ihr dann noch?
Morys: Wir arbeiten immer mehr mit Automatisierung, Systemen zur Steuerung, KI im Targeting von Kundentypen, Machine Learning und Algorithmen. Das erlaubt uns, immer bessere Systeme für unsere Kunden zu bauen. Der Erfolg der Systeme wird aber auch in 20 Jahren noch davon abhängig sein, wie gut das Kundenverhalten geändert werden kann. Das Wissen kann ich in einen Rechner oder eine Software implementieren - aber es muss irgendwo herkommen. Es wird also immer weniger Handarbeit und mehr Skalierung und Automatisierung geben. Daher werden wir weiterhin Mitarbeiter brauchen, die diese Erfolgsfaktoren verstehen und beherrschen, und wir werden mehr Mitarbeiter brauchen, die solche Systeme bauen und optimieren können.
ADZINE: Danke dir für das Gespräch!