Erfolgreich im IT-Business: Talente lockt man nicht mit Tischtennis, sondern mit Leistung
René Weber, 13. Dezember 2019Stefan Richter entwickelt mit seiner Firma freiheit.com seit über 20 Jahren Software – in der schnelllebigen IT-Branche eine Ewigkeit. Das Unternehmen führt er zusammen mit seiner Lebensgefährtin. Im Interview gibt uns Stefan einen Einblick in seinen Beruf und sein Unternehmen – unter anderem hat er uns auch verraten, wie freiheit.com den “War For Talents” auch ohne Tischtennisplatte erfolgreich meistert und trotz Platzen der Dotcom-Blase stets schuldenfrei geblieben ist.
ADZINE: Als ich das erste Mal von freiheit.com hörte, habe ich spontan an eine Nichtregierungsorganisation (NGO) gedacht, die sich für den Schutz von Menschenrechten einsetzt. Warum habt ihr eurem Unternehmen bei seiner Gründung genau diesen Namen verpasst?
Stefan Richter: Ich hatte die Domain im Mai 1997 reserviert und zunächst vor, Software-Komponenten zu entwickeln und über das Internet weltweit zu verkaufen. Das war damals gerade “in”. Das hat sich dann aber mehr in eine Leidenschaft für die Idee Freier Software (Open Source) verwandelt und dafür passte der Name auch gut: Wir waren von Anfang an eine Firma, die sich für Freie Software engagiert hat. Damals war das noch sehr ungewöhnlich. Heute ist es nicht mehr wegzudenken. Ohne Freie Software gäbe es keine digitale Revolution.
ADZINE: Die IT-Dienstleister arbeiten heute alle agil, sprinten vor sich hin, launchen “Minimum Viable Products” und vieles mehr. Was genau unterscheidet euch von euren Wettbewerbern? Was treibt euch an?
Richter: Wir sind keine Agentur und keine IT-Consultants. Agenturen haben Agentur-Prozesse. Consultants haben Consulting-Prozesse. Unsere Organisation ist aufgebaut wie eine Engineering-Organisation im Silicon Valley mit dem Fokus auf Produktentwicklung und wird auch so geführt.
Auf die Frage “What business are we in” antworten wir nicht mit Software-Entwicklung, sondern mit Zuverlässigkeit. Wir stellen Erfolg her. Projekte in hoher Qualität, pünktlich geliefert. Dafür sind wir seit über 20 Jahren bekannt. Darum haben wir auch keinen Vertrieb und kein Marketing. Unsere Klienten empfehlen uns weiter.
Jeder kann ein bisschen Scrum machen und trotzdem langsam und ineffektiv sein. Dafür braucht man keine speziellen Fähigkeiten. Aber nur wenige können reproduzierbar “on time” liefern. Fakt ist, dass immer noch die meisten Software-Projekte scheitern – eben weil das schwierig ist. Software-Produkte zu entwickeln ist kompliziert. Es reicht überspitzt gesagt nicht aus, jeden Morgen ein Daily und alle zwei Wochen eine Retro zu machen.
ADZINE: Ein Bekannter sagte letztens zu mir: „Die IT-Dienstleister können kein Projektmanagement mehr. Die denken nur noch in Sprints“. Was sagst du dazu? Vor der iterativen Software-Entwicklung gab es den Wasserfall. Da wurde erst einmal alles vom Groben bis zum Feinen definiert und spezifiziert. Und ganz am Ende wird das Programm geschrieben. Wie sieht ein Projektverlauf von Anfrage bis Go Live bei euch aus? Nehmen wir dazu mal als Beispiel den fiktiven Online-Händler „Ramsch Sale“, der euch mit der Entwicklung eines neuen Shop-Systems beauftragt.
Richter: Dein Bekannter hat recht. Es fühlt sich ein bisschen wie früher vor dem Agile-Hype an. Heute fragt man sich auch, warum alle so lange am Wasserfall-Prozess festgehalten haben. Das lag daran, dass sich alle dachten, dass “Wasserfall” eigentlich funktioniert und man es selbst einfach nur falsch anwendet. Das hört man heute auch im Falle von “agile”: If it doesn’t work, you are not doing it right.
In der Tat muss man planen und Projekte managen können, wenn man moderne Software-Produkte bauen will. Das ändert sich auch nicht, wenn man “agile” sein will. Dass man das Produkt iterativ bauen muss und dabei täglich kleine, funktionsfähige Inkremente ausliefert, ist unstrittig. Aber nur zu “sprinten”, ohne eine langfristige Idee und einen Plan zu haben, was man bis wann erreichen will und wie man dort hinkommen möchte, ist nicht effektiv. Das ist im Moment der Elefant im Raum in unserer Industrie. Und keiner mag sagen, dass dort ein Elefant steht.
Wir arbeiten seit über 20 Jahren iterativ. Wir fangen immer mit dem Zieltermin an, planen rückwärts und überlegen uns, welche sinnvollen zeitlichen Meilensteine wir erreichen müssen, um das Ergebnis zu erzielen, was der Kunde haben möchte. Zeit zu planen und mit sinnvollen Aufgaben auszufüllen, ist schwierig, aber unabdingbar. Und alles, was man schon absehen kann, sollte man auch einplanen. Der Plan wird sich dann trotzdem ändern und Vieles ist wahrscheinlich anders, als man es erwartet hat. Aber Erfolg geht nicht ohne Zeitpläne.
ADZINE: Du führst die Firma von Anfang an zusammen mit deiner Lebensgefährtin Claudia Dietze. Sie regelt das Geschäftliche, du programmierst auch selbst bzw. steuerst übergreifend die technischen Entwicklungen. Hört man nicht so oft, dass ein Paar gemeinsam eine Firma führt. Wie habt ihr bisher einen „Ehekrieg“ verhindern können? Welche Vor- und Nachteile bringt dieses Set-up mit sich? Seid ihr während der Arbeit auch Paar oder nur Businesspartner? Kann man das überhaupt trennen?
Richter: Oh, unsere Konflikte sind legendär. Natürlich kann man eine solche Firma nicht über eine so lange Zeit führen, ohne unterschiedlicher Meinung zu sein. Ich denke, es wäre auch seltsam, wenn man immer exakt das Gleiche denkt. So würde man wahrscheinlich immer nur zu den offensichtlichen Ideen und Lösungen kommen. Die interessanten Ideen und Lösungen liegen aber meist ausserhalb der Komfortzone und wirken oft im ersten Moment merkwürdig. Und da ist es dann wichtig, dass man so lange Argumente austauscht, bis man eine gemeinsame Entscheidung treffen kann.
Ich glaube, dass es von Vorteil ist, eine Firma mit einem Menschen zu gründen, den man sehr gut kennt und dem man sehr verbunden ist. Da ich nicht zwischen Arbeit und Leben trennen möchte, finde ich das sehr nützlich. Wir finden in der Regel sehr schnell zu einem Konsens, einfach weil wir auch viele unausgesprochene Annahmen und Einstellungen des anderen kennen.
ADZINE: Wir haben letztens mit Michael Trautmann über New Work und Sport gesprochen – darüber welche Rolle Sport in seinem Leben spielt und wie er körperliche Betätigung in seinen Alltag integriert. Ich weiß du bist begeisterter Crossfitter. Was ist dein Antrieb für Crossfit? Wie oft und wann trainierst du die Woche? Alleine, mit Privattrainer oder im Team?
Richter: Es ist ein fantastischer Sport. Fitness als Wettbewerb. Man tritt im Wesentlichen gegen sich selbst an und versucht immer das Beste aus sich rauszuholen. Ich habe als Jugendlicher viele Jahre Jiu-Jitsu gemacht, aber ich glaube, dass ich heute fitter und stärker bin als damals.
Mein Antrieb ist gesund und fit zu sein. Crossfit ist kein Modesport, sondern erzeugt messbare Ergebnisse. Man lernt viel Technik. Die Bewegungsabläufe, die man im olympischen Gewichtheben lernt, kann man in der Komplexität durchaus mit einem Golfschwung vergleichen.
Ich habe zuhause ein gut eingerichtetes Garage Gym, da trainiere ich meistens mit meiner Frau, die sehr kompetitiv ist, manchmal auch in unserer Crossfit-Box in Hamburg. Wir haben auch ein Haus in Los Angeles und wenn ich dort bin, dann trainiere ich in der Box in Venice Beach fast jeden Tag.
ADZINE: Michael verdient mit Sport mittlerweile auch seine Brötchen: Mit dem Fitness-Event Hyrox tingelt er erfolgreich durch die deutschen Großstädte. Bei dir vermischt sich Geschäft und Sport auch ein Stück weit. Du hast vor ein paar Jahren die erste Crossfit-Box Hamburgs eröffnet und bist immer noch Gesellschafter: Was hat dich zu dem Investment bewogen?
Richter: Mit Crossfit habe ich 2009 in Los Angeles begonnen. Da gab es das in Deutschland noch nicht. Ich habe dann auch das Level 1 und Level 2 Coach Certificate gemacht, nur um mich selbst besser trainieren zu können. 2013 habe ich dann die erste Crossfit Box (Crossfit HH) in Hamburg mitgegründet, eine der ersten in Deutschland. Und ich glaube, es ist auch immer noch eine der größten.
Ich habe das Investment gemacht, weil es den Sport in Hamburg nicht gab, ich aber gerne mit anderen trainieren wollte. Da habe ich dann Leute über Facebook gefunden, die auch Interesse daran hatten. Dr. Michael Murphy, mein Co-Founder, kam damals gerade aus Kanada nach Hamburg, um als Physiker und Materialwissenschaftler am DESY zu arbeiten. Gleichzeitig ist er ein hervorragender Crossfitter, der auch technisch ein sehr guter olympischer Gewichtheber ist.
Ich habe keinerlei geschäftliches Interesse als Sport-Unternehmer. Ich möchte nur, dass mein Co-Founder und unsere Box erfolgreich und die Coaches und Mitglieder glücklich sind.
ADZINE: In einem Interview habt ihr mal erzählt, dass es in eurer Firma entgegen dem Branchentrend keine Tischtennisplatten gibt, bekennende Fans von Home Office seid ihr auch nicht und die Massage für die Mitarbeiter ist auch nicht im Angebot. Was motiviert Entwickler bei der Arbeit? Warum bewerben sich IT-Fachkräfte bei euch? Spürt ihr auch den War For Talents und wenn ja, wie geht ihr damit um?
Richter: Wir glauben nicht, dass es diese “Perks” sind, die wirklich gute Mitarbeiter anziehen. Und ich denke, ich kann das beurteilen, weil ich selbst ein Programmierer bin. Wir haben eine Firma aufgebaut, nach der ich selbst immer gesucht hatte.
Der Schlüssel ist der Fokus auf Technologie und Software-Engineering. Bei uns können sehr gut akademisch ausgebildete Informatiker, Mathematiker und Physiker wirklich lernen, wie man Software im Team entwickelt. Sie werden bei uns zu echten Software-Engineers ausgebildet. Das kann man eben in den allermeisten Firmen nicht lernen, weil Firmen heute gerade erst damit beginnen, selbst Software zu entwickeln. Es herrscht dort keine Engineering-Kultur und es ist keine langjährige Erfahrung mit erfolgreichen Projekten vorhanden.
Wir ziehen im Wesentlichen die Leute an, die schon in der Schule und in der Uni immer zu den Besten gehört haben. Leute, die intelligent sind, arbeiten gerne mit anderen intelligenten Leuten zusammen. Bei uns kann man sich in einer einzigartigen Gruppe von Menschen persönlich weiterentwickeln.
Mittlerweile haben wir aber auch einen Billardtisch, es gibt immer wieder Fitness- und Ernährungs-Aktionen, wir sponsern eine Crossfit-Gruppe und um die Integration mit unserem neuen Engineering-Hub in Lissabon voranzutreiben, arbeiten wir auch an der Optimierung unserer Remote-Worker-Fähigkeiten. Aber unsere Leute sind ganz sicher nicht deshalb bei uns.
ADZINE: Ihr habt auch schwierige Zeiten mit eurem Unternehmen gut gemeistert, unter anderem das Platzen der Dotcom-Blase. Wie führt man aus deiner Sicht erfolgreich ein Unternehmen? Ich habe gelesen, dass ihr noch nie Schulden gemacht oder Risikokapital aufgenommen habt.
Richter: Das stimmt. Es gab zwei größere Wirtschaftskrisen in den letzten 20 Jahren und trotzdem war unser Cash-Flow immer positiv - wir haben ohne Fremdkapital begonnen und noch nie fremdes Geld benötigt. Wir sind in Finanzfragen sehr konservativ und sehr kostenbewusst. Wir sind aber jederzeit bereit, für eine sinnvolle Investition sehr viel Geld auszugeben und kalkulierte Risiken einzugehen.
Wir beschäftigen uns mit den Details und bevor wir jemanden einstellen, um eine neue Aufgabe zu übernehmen, übernehmen wir diese Aufgabe erst einmal selbst, um dann besser beurteilen zu können, was eine Person in dieser Position können muss. Alles, was wir in der Firma machen, haben Claudia oder ich schon einmal selbst gemacht und verantwortet. Ich denke, dass erfolgreiche Unternehmer detailverliebt sind und sich nie mit mittelmäßigen Ergebnissen zufriedengeben.
ADZINE: Die IT-Branche ist wie kaum eine andere Branche empfänglich für Hypes. Welche Entwicklungen sind für dich gerade sehr spannend und haben ggf. das Potential mit konkretem praktischen Nutzen mehr als nur ein Hype zu sein? Wie begründest du das?
Richter: Den meisten fällt jetzt erstmal künstliche Intelligenz und Machine Learning ein und welchen Einfluss das auf die normale Arbeitswelt haben wird.
Ich als Unternehmer frage mich immer wieder, was für uns disruptiv sein könnte. Was ist es, was unser eigenes Business aushebeln könnte? Sicher ist, es wird erstmal nicht die AI sein, die plötzlich programmieren kann wie ein Mensch. Das ist schon das End-Game, da eine solche AI bereits über sehr starke menschliche Kognition verfügen muss.
Interessanterweise liegen aber alle Ergebnisse, die Programmierer erzeugen, in digitaler Form vor. Es gibt wahnsinnig viele Dinge in der Software-Entwicklung, die man mit maschineller Intelligenz unterstützen und verbessern kann.
Daran arbeiten wir und entwickeln dabei eigene Tools, um Machine Learning on Project Management und Machine Learning on Code voranzubringen. Unser Ziel ist, Menschen und Maschinen zu vernetzen und in einem vollständig datengetrieben Unternehmen zu einer “Community of Humans and AIs” zu vereinen. Die Zukunft der Arbeit ist eben diese Vernetzung von Mensch und Maschine. Unternehmer sollten also nicht nur überlegen, wie sie ihre Produkte mit maschineller Intelligenz verbessern, sondern vor allem auch die eigenen Arbeitsprozesse.
Das ist unser ambitioniertes Projekt für die nächsten 20 Jahre.
ADZINE: Danke Dir für das interessante Gespräch!
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