Weiterbildung: „Spezialisten gewinnen den Sprint, Generalisten den Marathon“
René Weber, 27. September 2019Der (fiktive) Marketing-Mitarbeiter Rolf Targeting kann sich glücklich schätzen. Sein Chef hat ihm für Weiterbildung einen stattlichen Eurobetrag zur freien Verfügung bereitgestellt. Die Crux: Er weiß nicht, was er jetzt genau damit anstellen soll. Worin soll er sich weiterbilden? Was ist das passende Format? In der Situation stecken sicherlich viele Marketer heutzutage – insofern die Firma überhaupt Budget für Weiterbildung herausrückt. Die Marketing-Welt wird schließlich immer komplexer: neue Kanäle, Plattformen, Tech & Co. Wir haben mit dem Marketing-Experten Pascal Fantou über dieses Thema gesprochen. Pascal hat wahrscheinlich schon jede Digital-Konferenz im Universum besucht, zudem hat er vor ein paar Monaten die Online-Academy Q48 gestartet, die sich mit der ganzheitlichen Weiterbildung von Marketern beschäftigt.
ADZINE: Hallo Pascal, du bist ein Konferenz-Jetsetter: Du hast in den letzten 20 Jahren kaum eine der Top-Veranstaltungen im Digital Business hierzulande und weltweit ausgelassen. Daneben nimmst du auch regelmäßig an eher fachfremden Events wie der Hackerkonferenz Black Hat in Las Vegas teil. Was treibt dich bei deinem strammen Konferenzprogramm an, wofür du nicht selten tausende Kilometer um die Welt fliegst? Was macht aus deiner Sicht überhaupt eine gute Veranstaltung aus?
Pascal Fantou: Also zuerst mal fliege ich mittlerweile weniger um die Welt, sondern ich konsumiere inzwischen viele Events auch rein per Stream. Es stimmt aber, wenn man vor Ort ist, hat das einen Mehrwert von mindestens 100 Prozent im Vergleich zum reinen Streamen. Das liegt daran, dass ich auf zwei Ebenen etwas mitnehme: einmal auf der inhaltlichen, das wird mit dem Stream abgedeckt. Aber der zweite Teil ist mindestens genauso wichtig: die Verbindung mit Menschen.
Eine gute Veranstaltung bietet Raum und Führung für beides. Einmal: „Diese Inhalte habe ich aus folgendem Grund für dich ausgesucht“, und dann: „Diese Menschen sind für dich relevant.“ Das klingt erstmal platt und wird von den meisten Veranstaltern auch so umgesetzt, aber wenn man mal darüber nachdenkt, ist es der Kern solcher Veranstaltungen.
Die unangenehme Nachricht ist: Die meisten Veranstalter sparen sich so viel wie nur möglich davon. Man bekommt das Gefühl, es gilt Name vor Inhalt und möglichst viel Drumherum, oder kurz gesagt: viel Rauch um nichts.
Die Verantwortung kann man aber nicht (nur) bei den Veranstaltern suchen: Wenn Mitarbeiter sich heute in Vorträge wie „40 neue Social Media Hacks” setzen oder „10 Black-Hat-Techniken”, dann haben die den Schuss nicht gehört. Das bringt zu 90 Prozent nicht für ihren Job. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass sie entweder nicht das gefunden haben, was ihnen etwas bringt, oder dass sie es nicht mal einschätzen können.
ADZINE: Welchen Nutzen ziehst du konkret aus einer Veranstaltung? Inwiefern setzt du die Dinge, die du hörst und siehst, im Nachgang praktisch um?
Fantou: Ich lerne neue Dinge kennen, in der Regel reichen mir drei bis vier. Und ich lerne neue Menschen oder Bekannte besser kennen, lerne etwas über ihre Einschätzung zu Themen und das hilft mir, das Gehörte aus mehreren Sichtweisen zu reflektieren. In die direkte Umsetzung kommen tatsächlich nur zwei bis drei Learnings. Ich glaube auch nicht daran, dass Leute mehr als zehn Dinge danach wirklich umsetzen, denn das würde bedeuten, dass sie nicht darüber nachdenken, was es tatsächlich mit ihnen und ihrer Branche zu tun hat.
ADZINE: Die Marketing-Welt wird immer komplexer: Immer neue Kanäle und Plattformen gilt es, im Sinne der Kunden mit zielgenauem Content zu befüllen und zu orchestrieren. Nehmen wir jetzt mal an, der fiktive Marketing-Mitarbeiter Rolf Targeting bekommt von seinem Chef 3.000 Euro für Weiterbildung auf die Hand. Damit kann er anstellen, was er will. Allerdings weiß der gute Mann selbst nicht, was er benötigt. Was würdest du ihm empfehlen?
Fantou: Weiterbildung ist vielfältig. Ich würde ihm raten, für sich in unterschiedlichen Clustern zu denken:
- Branche: Was muss ich wissen, um meine Branche besser zu verstehen?
- Rolle: Was muss ich wissen, um meine Rolle besser auszuüben?
- Person: Wie muss ich mich persönlich weiterentwickeln?
- Unbekanntes: Wovon habe ich keine Ahnung, es hört sich aber interessant an? ...jetzt haben wir vier Perspektiven, aber die wichtigste fehlt immer noch:
- Was ist das Ziel?
Es gibt hier zwei grundsätzliche berufliche Entwicklungsrichtungen: Die Spezialisten- und die Generalistenkarriere. Der Spezialist vertieft sein Wissen in einem sehr schmalen Bereich, zum Beispiel Technical SEO, Adserver etc., und der Generalist trifft Entscheidungen wie: Wo trifft uns der 30-Prozent-Budget-Cut am wenigsten? Diese grundsätzliche Entscheidung sollte man für sich treffen. Als Faustregel von mir gilt die Empfehlung, solange wie nur möglich Generalist zu sein.
Zwei Gründe sprechen meiner Meinung nach dafür. Zum einen: Über Karriereschritte mehr Verantwortung bekommen bedeutet Entscheidungen über breitere Bereiche treffen zu müssen. Und zum anderen ist das notwendige Einarbeiten in immer wieder neue Bereiche eine ideale Voraussetzung für künftige, noch unbekannte Herausforderungen in einer sich schnell ändernden Welt. Vielleicht ist die Smartwatch ein wichtiges Device der Zukunft oder die AR-Brille. Der SEO- oder Programmatic-Experte wird eventuell einfach plötzlich nicht mehr gebraucht. Wer die Unterschiede zwischen den Anforderungen im Web 1.0 und Social Media herausarbeiten kann, hat diese abstrakte Fähigkeit auch weiterhin.
Das Ziel bestimmt den Weg.
ADZINE: Müssten nicht auch die Firmen genau wissen, welche Kenntnisse und Fertigkeiten ihre Mitarbeiter haben sollten, um diese gewinnbringend für das Unternehmen einzusetzen? Inwiefern sind die Firmen für die Weiterbildung der Mitarbeiter in der Pflicht?
Fantou: Das sollten sie, aber meist sind sie vom operativen Alltag so gefordert, dass sie sich dafür keine Zeit nehmen. Das zu beobachten ist wie die Geschichte des Baumfällers mit der stumpfen Axt, der keine Zeit hat, sie zu schärfen, weil er ja den Baum fällen muss.
Ich persönlich weiß inzwischen, dass man gute Firmen und auch gute Führungskräfte daran erkennt, dass sie ihre Mitarbeiter bis zu dem Punkt weiterentwickeln, an dem sie das Unternehmen verlassen. Denn das werden sie. Die Frage ist nur, werden sie das Unternehmen als einen Ort weiterempfehlen, an dem man gefördert wird? Noch plakativer: Mitarbeiter gehen zu Unternehmen, aber verlassen ihre Chefs.
Es gibt ein schönes Bonmot dazu: CFO to CEO: “What, if we train all our people, and they leave?” CEO to CFO: “What, if we don’t, and they stay?”
ADZINE: Sprechen Unternehmen und Mitarbeiter im Bereich Weiterbildung überhaupt die gleiche Sprache? Wie gelingt der Match zwischen den Erwartungen der Mitarbeiter und der Firma?
Fantou: Zuerst einmal muss man sich bewusst sein, dass hier zwei unterschiedliche Agenden existieren. Die Unternehmen versuchen zwar gerne die romantische Vorstellung zu pflegen, dass man sein ganzes Leben bei diesem Unternehmen bleibt. Die Loyalität wird asymmetrisiert. Der Mitarbeiter soll gefälligst loyal sein, aber wenn es mal eng wird, wird er gefeuert. Wie kann er sich dem unvermeidlichen Wechsel stellen? Sein wertvollstes Asset sind seine nachweisbaren Qualifikationen. Weil er sich mit denen für den nächsten Job bewirbt.
Weiterbildung sollte Mitarbeiter dazu befähigen, eigenverantwortlich zu denken und zu handeln. Und so zu den Mitarbeitern zu werden, die gar keine Führung mehr brauchen, sondern im Gegenteil ihre Chefs mitnehmen können, in der Breite der Themen ihren Chef führen, damit er bei mangelndem Fachwissen die richtigen Entscheidungen für das Unternehmen trifft.
Solche Mitarbeiter, Chefs und Kollegen will doch jeder.
ADZINE: Nehmen wir nun an, Herr Targeting konnte für sich ausmachen, was er an Weiterbildung inhaltlich braucht. Jetzt erschlägt ihn aber das Angebot an unzähligen Konferenzen, Seminaren und Workshops – vor Ort in Hamburg, München & Co. oder im Web als E-Learning. Wie gelingt eine bestmögliche Entscheidung für eine spezielle Weiterbildung? Nach welchen Kriterien?
Fantou: Ich glaube, dass jede dieser Methoden ihre Vorteile hat.
Unterscheiden wir zwischen lokalen, virtuellen Events und Hybridmodellen.
Als zweite Dimension die Art der Veranstaltung:
- Seminar vertieft ein Thema in einer kleinen Gruppe.
- Konferenz verschafft Überblick zu einem Themenbereich.
- Ausbildung begleitet die Qualifikation länger und intensiver.
Es kommt also, wie vorher schon beschrieben, auf das Ziel an, und dann auch auf den Weg. Und natürlich den Ausgangspunkt. Je länger ich in meinem Job bin, desto mehr verändern sich die Anforderungen an mein Wissen.
ADZINE: Was hältst du persönlich davon, wenn berufliche Weiterbildung von der Firma aufs Wochenende gelegt wird, damit der normale Arbeitsbetrieb geräuschlos weiterlaufen kann?
Fantou: Ich halte das für falsch. Weiterentwicklung muss im Sinne des Unternehmens sein. Meine Hypothese ist: Wenn die Mitarbeiter ein Klima des geförderten Lernens erleben, lernen sie aus eigener Motivation in ihrer Freizeit weiter, einfach weil sie das Thema so spannend finden.
Ein Beispiel dazu: Während meiner Zeit in der Scout-Gruppe habe ich ein Curriculum entwickelt, in dem jeder Online-Marketing-Mitarbeiter lernen musste, eine Website zu betreuen und damit Geld zu verdienen. Dafür haben wir zwischen 10 und 20 Prozent der Wochenarbeitszeit zur Verfügung gestellt. Es gab diesen einen Punkt, an dem den Mitarbeitern das nicht mehr reichte. Und zwar als sie den ersten Euro verdient hatten. Da begannen sie, abends und am Wochenende eigenmotiviert Dinge zu lernen, weil sie einen direkten Erfolg sahen. Ich nenne das den Magic Moment.
ADZINE: Weiterbildung kostet richtig Geld: Je nach Breite und Tiefe der vermittelten Inhalte kann da an zwei bis drei Tagen ein fünfstelliger Betrag an Kosten zustande kommen – hinzukommt der Ausfall der Arbeitszeit und ggf. Reisekosten. Die Firmen wollen also den viel beschworenen ROI beurteilen können. Inwiefern kann der Nutzen einer Weiterbildung überhaupt nachgehalten werden? Hat das nicht auch viel mit Vertrauen zu tun, dass der Mitarbeiter eine Weiterbildung auch wirklich ernst nimmt?
Fantou: Die Weiterbildung löst natürlich nicht die Verantwortung der Führungskraft, zu entscheiden, ob die Mitarbeiter gut oder schlecht für das Unternehmen sind. Wer das versucht, von den Führungskräften wegzudelegieren, braucht neue Führungskräfte.
Ich würde im Bereich Digital Marketing von folgendem Daumenwert ausgehen: 10 bis 20 Prozent des Bruttogehaltes und 10 bis 20 Prozent der Zeit sind für Weiterbildung zu planen. Alles andere ist Stillstand.
Zur ROI-Frage: Wann rentiert sich ein Mitarbeiter? Ich bin ja ein Fan von „Hire for attitude, Train for skills“. Ob ein Mitarbeiter gut und richtig für das Unternehmen ist, stellt sich für mich nicht aufgrund einer Weiterbildung. Ich würde die Kosten auch einfach als Bestandteil des Gehaltes sehen. Leider sehen viele Weiterbildung als persönliches Incentive in Form eines Events, dass man den Mitarbeitern gibt, damit sie sich freuen. Was ich damit sagen will: Vertrauen ist keine Einbahnstraße, es geht nicht nur darum, ob ich als Arbeitgeber dem Mitarbeiter vertrauen kann, sondern auch um die Frage, ob ich als Mitarbeiter dem Chef vertrauen kann. Und ein Zeichen für Vertrauen ist die gemeinsame Arbeit an der Entwicklung des Mitarbeiters unter den beiden Perspektiven: Was ist am besten für die Firma und was am besten für ihn? Auf der Basis läuft es meiner Erfahrung nach gut.
ADZINE: Welche Skills im Marketing sind für dich in den kommenden fünf bis zehn Jahren entscheidend? Werden künftig mehr Generalisten oder Spezialisten im Marketing benötigt?
Fantou: Klare Sache: Spezialisten gewinnen den Sprint, Generalisten den Marathon. Es kann heute keiner sagen, welches Spezialwissen in zehn Jahren nötig sein wird. Was man aber sicher sagen kann, ist: Es wird darum gehen, neue Herausforderungen zu bewerten, einzuordnen und anzunehmen. Das machen natürlich die besser, die das schon immer tun müssen. Und einige Basics werden sich nicht ändern: Einnahmen - Ausgaben = Gewinn.
ADZINE: Was macht aus deiner Sicht – ob Generalist oder Spezialist – einen guten Marketer aus?
Fantou: Die wichtigsten Eigenschaften sind meines Erachtens Neugierde und Skepsis. Neugierde darauf, den „So haben wir es immer gemacht”-Pfad zu verlassen, und Skepsis, niemandem zu glauben, der sagt: „Das musst du so machen.” Es mag widersprüchlich klingen, aber die besten Marketer sind meiner Meinung nach die, die Dinge nur dann glauben, wenn sie sie selber auch getestet und bestätigt haben.
Leider gibt es gerade in dieser Welt auch viele Scharlatane, die unglaubliche Ergebnisse versprechen oder die Zuhörer so benebeln, dass diese nachher zu Lemmingen werden. Großmütter sagen ja angeblich: “Wenn es stinkt, iss es nicht.”
Was ich meine, sieht man zum Beispiel auch häufig im Programmatic-Umfeld. „Der Algorithmus hat das ja entschieden”, ist die schlechteste Ausrede für miese Performance.
Die Ursache ist, dass man Technologien einsetzt, die vollmundig von Sales-Menschen angepriesen werden, aber zum Beispiel die eigenen Hausaufgaben wie First-Party-Daten-Qualität einfach ignoriert.
Gute Marketer hören eben genau dann nicht auf, wenn sie etwas auf den ersten Blick nicht verstehen. Sie geben sich damit nicht zufrieden. Sondern lernen so lange weiter, bis sie es mit eigenen Worten erklären können. Dann sind sie bereit, die zugehörige Entscheidung auch richtig zu treffen.
ADZINE: Pascal, danke für das Interview!
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