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Ad Fraud: Der Betrug mit der Videowerbung

Nikolai Longolius, 12. Januar 2016
Yury Zap -Dollarphotoclub.com

Alle Statistiken aus dem Werbemarkt – insbesondere wenn es um betrügerische Aktivitäten, den Ad Fraud geht – sind mit extremer Vorsicht zu genießen. Üblicherweise haben die Herausgeber solcher Reports ein starkes eigenes Interesse, eine Zahl deutlich zu über- oder zu untertreiben, doch gewisse Tendenzen lassen sich ableiten. Und selbst, wenn wir in allen Bereichen die konservativsten Zahlenwerke miteinander kombinieren, blicken wir auf ein Riesenproblem, das vor allem das Video Advertising betrifft.

Die weltweiten Werbeumsätze werden in diesem Jahr wohl über 500 Milliarden Dollar liegen. Der Online-Werbemarkt in Deutschland ohne Suchmaschinenwerbung ist etwa drei Milliarden Euro schwer. Davon werden 1,5 Milliarden Euro mit Bannerwerbung umgesetzt. Der deutsche Videowerbemarkt wird auf gut 300 Millionen Euro und der weltweite Videowerbemarkt auf circa 11 Milliarden Dollar geschätzt. Um eine alte Metapher zu gebrauchen: Geld zieht Betrüger an wie Motten das Licht und dieser Berg von Geld glänzt so hell wie die Sonne.

Fraud bei Displaywerbung lohnt kaum

Im gewaltigen Displaymarkt ist Fraud schon lange ein Problem, mit dem der Markt gelernt hat umzugehen. Die IAB geht davon aus, dass 11% des gesamten Display-Traffics über Botnetzwerke generiert werden. Das wäre in dieser Milchmädchenrechnung ein Gesamtumsatz von 55 Milliarden Euro – nur durch Bot-Traffic im Displaybereich. Doch Stopp! Bei aller Freude an Milchmädchenrechnungen ist der Anteil des Bot-Traffics extrem ungleich verteilt. Und ein großer Teil des Bot-Traffics schafft es überhaupt nicht bis in die Abrechnungen der Vermarkter, sondern ist lediglich ein technisches Filterproblem für die Adserver. Die Margen im hart umkämpften Displaymarkt sind so eng, dass es sich für viele Betrüger nicht mehr lohnt, Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu betreiben.

Ein Großteil des Bot-Traffics besteht aus einem stupiden Laden der entsprechenden Zählpixel. Ich persönlich verstehe nicht, warum es den Fraud-Markt im Displaybereich überhaupt noch gibt. Meiner Meinung nach ist der Markt einfach dadurch zu vernichten, dass man die Preise für die Betrüger in die Höhe treibt. Wenn wir es schaffen würden, die notwendige Komplexität der Betrugsmaschinen nur etwas zu erhöhen, wird es aus wirtschaftlichen Gründen kaum noch möglich sein, gewinnbringend zu betrügen.

Bei der Videowerbung spielt für die Betrüger die Musik

Videowerbung ist etwas vollkommen anderes. Auf der einen Seite stellen Werbevideos viel höhere Anforderungen an Kriminelle. Die Komplexität einer validen Videowerbeauslieferung ist nicht zu unterschätzen, aber der potenzielle Erlös ermöglicht es, ganz andere Aufwände zu betreiben, als es bei Display möglich ist. Der Preis von Videokampagnen liegt um Größenordnungen über dem Preis von Displayanzeigen. Da spielt die Musik.

Spielen wir das Spiel einmal durch. Nehmen wir für den Moment einmal an, ich wäre ein skrupelloser Betrüger. Was würde ich tun? Ich würde zunächst ein Webportal erfinden, dass seriös und plausibel klingt. Heimwerker25. de zum Beispiel: „Heimwerker25. de ist ein Portal für den Selfmadehandwerker mit vielen Videoanleitungen“. Das erfundene Heimwerker25. de-Portal hat 95.000 erfundene Unique User im Monat mit 290.000 Visits und 255.000 Videoabrufen.

Eine Facebook-Seite mit gekauften Freunden ist schnell gebaut, um die Glaubwürdigkeit der Geschichte zu erhöhen. Die Seite selbst wird innerhalb eines Tages mit zusammengesuchten Heimwerkervideos aus aller Welt gefüllt. Sie muss nur einem oberflächlichen Check bestehen können. Der gesamte Traffic dieser Webseite wird über einschlägige Portale gekauft (ich werde an dieser Stelle keine Werbung für die Betrüger machen). 1000 hochqualitative Seitenaufrufe aus solchen Botnetzen kosten zwischen 0,35 € und 1 €. Das ist Traffic, der nicht so leicht von einem simplen Filter entdeckt wird.

Mit dieser Webseite gehe ich zu einem Vermarkter meiner Wahl und bekomme (je nach Verhandlungsgeschick) zwischen 7€ und 12€ für 1000 Kontakte – bei einer extrem guten Ad Fill Rate, da ich mich bei meinen gekauften Besuchern nicht mit Adblockern und ähnlichen Unbequemlichkeiten herumschlagen muss. 1000% Rendite – über den Daumen gepeilt. Heimwerker25. de macht jetzt also ca. 2500€ Umsatz im Monat, bei marginalen Kosten.

Jetzt würde ich 200 von diesen Webseiten bauen. Und das ganze Ding nennen wir Vertical Network. Die Videos können jetzt sogar teuer eingekauft werden. Das macht auf den ersten Blick keinen Unterschied, da die Filme ja praktisch nie von einem echten Menschen gesehen werden, aber es steigert die Seriosität meines Produktes/Netzwerkes natürlich enorm, wenn dort namhafte Produzenten ihre Filme zeigen.

Der Aufbau dauert ein Jahr und danach macht das gesamte Netzwerk einen Jahresumsatz von 6 Millionen Euro. Verbrechen lohnt sich eben manchmal doch. Nehmen wir für den Moment einmal an, es wäre so leicht (und es ist so leicht). Was bedeutet das? Die IAB geht von einem Fraud-Faktor von 23% im gesamten Videomarkt aus. Ich halte das persönlich für realistisch, möchte aber noch einmal betonen, dass diese 23% selbstverständlich extrem ungleich verteilt sind.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bekannte Webseite Fraud Traffic dazukauft, liegt praktisch bei null; einfach, weil es viel mehr zu verlieren als zu gewinnen gibt und die dortigen Entscheidungshierarchien überhaupt nicht wie Betrüger denken können. Webseiten mit User Generated Content bilden eine Ausnahme, doch der Markt ist hier sehr sensibel. Ich würde das als Sonderfall ausklammern wollen. Das bedeutet: Der Fraud-Anteil auf Nicht-Premiumwebseiten muss die 0% Fraud im Premiumsegment zusätzlich kompensieren, um auf 23% zu kommen. Autsch! Und Premium ist in diesem Fall ein sehr weit gefasster Begriff. Damit meine ich Webseiten, deren Namen man zumindest schon einmal gehört hat.

Zusammenfassend kann man sagen: Der Videomarkt macht es Betrügern sehr leicht, einen Teil der Umsätze abzuschöpfen. Das funktioniert vor allem deshalb so gut, weil die von Zahlenmanipulationen direkt Betroffenen praktisch nie die Geschädigten sind. Fraud schädigt nur solche Marktteilnehmer, die nicht an Fraud beteiligt sind. Also in erster Linie die Premiumplattformen und Vermarkter, die sich ausschließlich auf Premiumplattformen konzentrieren. Die Werbekunden und ihre Mediaagenturen haben Fraud, wie jede andere Unwägbarkeit auch, in die Werbewirksamkeit des Mediums eingepreist. Man kann sagen: Fraud macht Videowerbung im Mittel weniger effektiv, da ein Teil der ausgestrahlten Werbung von Computern und nicht von Menschen gesehen wird. Adserver rechnen überwiegend nach Pay-Per-Use-Modellen ab. Je mehr, desto besser. Vermarkter auch. Statistiksysteme auch. Es gibt keine unmittelbar Geschädigten. Die mittelbar Geschädigten sind alle Marktteilnehmer, die ohne Zahlenmanipulationen mit den niedrigen Werbepreisen zurechtkommen müssen. Sie zahlen den Betrug.

Es folgt die spannende Frage: Was tun?

Die natürliche Reaktion auf diese Frage ist: Fraud härter direkt zu bekämpfen. Ich halte dies insbesondere im Videobereich für eine nicht zielführende Reaktion. Im klassischen Displaygeschäft mag es gelingen, den Fraud einfach durch die Erhöhung der Komplexität des Betruges aus dem Markt zu drängen, aber im Videobereich sind die Margen so hoch, dass unter den gegebenen Regeln für Werbeauslieferungen im Videobereich die Betrüger sehr große Ressourcen bereitstellen können. Wir können den Markt für Zahlenmanipulationen etwas härter machen, aber wir werden das Problem so nicht los.

Meiner Meinung nach gibt es nur eine zielführende Strategie, um dieses Problem zu lösen. Wenn wir die Betrüger nicht aus dem Videomarkt bekommen, dann müssen wir eben die, die nicht betrügen, herausnehmen. Und mit ihnen alle „echten“ Zuschauer. Menschen, die wirkliche Kaufentscheidungen treffen und ein echtes Einkommen haben, Menschen mit Interessen. Übrig bleiben Bots, Betrüger, Computer, Zahlenreihen. Bei Online-Computerspielen wird dies schon länger praktiziert.

Zumeist ist es sehr aufwendig, die Betrüger (sog. Cheater) aus dem Spiel zu verbannen. Deshalb sind einige dazu übergegangen, die Cheater einfach gegen Cheater spielen zu lassen. Wenn man die nicht betrügenden Spieler einfach nicht in Kontakt mit den Betrügern kommen lässt, dann kann auch niemand betrogen werden.

Konkret würde dies bedeuten, eine Allianz der Premiumvermarkter und Premiumplattformen zu gründen. Dieser Verband würde sich selbst extrem harte Kriterien zur Fraud-Bekämpfung auflegen. Sehr harte Transparenzkriterien, technologische Kontrollen, drakonische Strafen bei Vergehen. Eine unabhängige Agentur sorgt für die Kontrolle der Einhaltung der Kriterien. Herauskommt beispielsweise ein Gütesiegel des Verbandes. Dieses garantiert, dass Ad Impressions mit diesem technischen Siegel tatsächlich von einem echten Menschen gesehen werden.

Im Gegenzug könnten die teilnehmenden Webseiten und Vermarkter ihre Preise stark erhöhen. Bei 23% Fraud im Videomarkt müsste bei einer Preiserhöhung von 20 bis 30% die Werbewirkung des Mediums ungefähr gleichbleiben. Und warum sollten die Mediaagenturen diese Mondpreise bezahlen? Selbstverständlich können sie weiterhin im klassischen Markt ihre Werbung buchen. Dieser Markt funktioniert wie vorher, nur dass es einfach keine echten Menschen mehr gibt, die Werbung sehen. Dieser Markt wird sterben. Denn wie oft kann man einem Computer oder Bot eine Werbung für Waschmittel zeigen, bevor er anfängt selbstständig Waschmittel zu kaufen? Ich würde wetten, eine ganze Zeit lang.

Der Weg, um Fraud aus dem Markt zu entfernen, ist nicht, den Fraud selbst zu bekämpfen. Wir müssen es wirtschaftlich sehr unattraktiv machen, Fraud zu kaufen. Dann ist es nämlich den teilnehmenden Parteien wie Mediaagenturen, Adservern, Vermarktern und Plattformen nicht länger egal, wie viel Fraud bei ihnen oder anderen stattfindet. Es wird auf einmal wirtschaftlich relevant, nichts mit Betrügern zu tun zu haben und nicht von Betrügern zu kaufen.

Für diese Idee kämpfe ich und rede mit sehr vielen Parteien in diesem Markt darüber. Es ist ausgesprochen knifflig, dies zu realisieren, da sehr viele Hände an einem Strang ziehen müssen. Und diese Hände gehören zum Teil Konkurrenten, die nicht miteinander reden oder reden möchten. Und wenn sich diese Parteien miteinander absprechen sollten, die Preise am Tag X um 20% zu erhöhen ... das würde sicherlich das Kartellamt interessieren; mit äußerst unangenehmen Folgen.

Hier ist viel Sensibilität gefragt. Aber das Ziel, das Leben für Betrüger etwas schwieriger zu gestalten und ehrlichen Marktteilnehmern mit ihren inhaltsgetriebenen Produkten das Leben wieder etwas leichter zu machen, ist der Mühe wert.

Bild Nikolai Longolius Über den Autor/die Autorin:

Nikolai Longolius ist Geschäftsführer der schnee von morgen webTV GmbH. Neben der Gründung der webTV Sender dctp.tv und SPIEGEL.TV unterstützt er mit seinem Team weltweit Vermarkter und Broadcaster bei der Optimierung von Werbeauslieferungen im Videobereich. Bei O´Reilly (Köln) erschien 2011 sein Buch „Web-TV: AV-Streaming im Internet“. Voraussichtlich 2016 erscheint sein Buch „Werbung und das Internet“.

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