Programmatic TV in Deutschland: Es geht erst los
Jens von Rauchhaupt, 14. Dezember 2015Technologieanbieter, Mediaagenturen und auch Vermarkter stellen Programmatic TV eine rosige Zukunft in Aussicht. Der automatisierte Mediaeinkauf von TV-Werbung ist sowohl beim IP-basierten Fernsehen (Addressable TV) als auch für das klassische TV ein großes Thema. Allerdings ist noch nicht überall Programmatic drin, wo Programmatic draufsteht, und noch handelt es sich eher um Parallelwelten, die irgendwann einmal verschmelzen werden.
Zwei Meldungen zum Themenblock Programmatic TV machten in jüngster Zeit die Runde: Da vermeldete der Bewegtbildvermarkter Smartclip eine, wie sie sagt, „wegweisende Kooperation“ mit dem Sendeautomations-Anbieter HMS Media für die Werbeausspielung auf Addressable TVs. Die zweite Meldung betraf eine exklusive Kooperation zwischen Goldbach Deutschland und der Mediaagentur Omnicom Media Group Germany. Diese Kooperation würde eine Vorstufe für Programmatic Buying in der TV-Werbung darstellen.
Addressable-TV-Plattform
Ein neuer TV-Vermarktungsansatz von Smartclip und HMS Media Solutions verknüpft die Sendeautomation mit der digitalen Werbelogistik. Smartclip ist ein etablierter Online-Bewegtbildvermarkter, der mit SmartX auch eine Supply-Side-Plattform für Online-Bewegtbild betreibt. Nun haben die Hamburger eine Addressable-TV-Plattform auf Basis des internetfähigen HbbTV-Standards entwickelt und an das HMS-eigene DVB-Playout-System „DiSA“ integriert, mit dem weltweit mehr als 200 Fernsehstationen arbeiten.
Durch das Zusammenspiel beider Systeme sollen die TV-Sender von effizienter Auslieferung digitaler Werbung über Echtzeit-Adserver-Logistik in das lineare Broadcast-Signal profitieren. TV-Stationen können ihre bestehende Programmplanung so für den digitalen Vermarktungsweg öffnen und darüber hinaus eine zeitsynchrone Auslieferung von Werbung in Echtzeit auslösen. Das Ziel: Eine effizientere Vermarktung der TV-Reichweiten. Aktuelle Reichweiten können somit schon heute genutzt werden, um von der digitalen Real-Time-Vermarktung und einer datenbasierten programmatischen TV-Lösung zu profitieren.
Laut Thorsten Schütte-Gravelaar, Vorstand der smartclip AG, verbindet die vollintegrierte Lösung der eigenen Addressable-TV-Plattform mit HMS eine effiziente Möglichkeit, den klassischen TV-Workflow mit der digitalen Vermarktung über deren Frameworks und Adserverstrukturen zu verbinden. „Fernsehsender können über diese Werbemodelle unmittelbar von neuen Werbeinvestitionen profitieren. Und Werbekunden werden nun über eine einheitliche technische Infrastruktur auch auf interessante Zielgruppen und Reichweiten dieser TV-Sender transparent und digital zugreifen können“, sagt Schütte-Gravelaar.
Wermutstropfen: Über HbbTV kommen kaum lineare Inhalte auf den TV-Screen
Es geht also darum, die Lücke zwischen linearem Fernsehen und den bislang vorwiegend im Internet angewandten digitalen Vermarktungsinstrumenten zu schließen. Das würde die TV-Sender den Zugang zu neuen Erlösquellen eröffnen. Doch bevor wirklich alle TV-Sender über Addressable TV ihre Inhalte wie in der Online-Werbung vermarkten können, wird dann doch noch etwas Zeit vergehen. Bisher gibt es kaum lineare Inhalte, die über das Internet am Smart-TV über HbbTV vermarktet werden. Der Grund liegt am derzeitigen HbbTV-1.5-Standard, der es technisch schwierig macht, Bewegtbildspots fehlerfrei auf dem großen TV-Screen auszuliefern, und auch die TV-Sender selbst stellen bisher kaum Bewegtbild-Content über die HbbTV-fähigen Geräte bereit.
Allerdings haben einige Testkampagnen bereits gezeigt, dass die Werbetreibenden durchaus willens sind, sich dem Thema Addressable TV zu widmen. So gab es bereits im Sommer eine Gillette-Kampagne von Procter & Gamble, die mithilfe von Smartclip und der Mediaagentur Pilot auf dem Smart-TV-Umfeld von Sport1 realisiert wurde. Doch mit wenigen Ausnahmen handelt es sich in den meisten Fällen noch immer um Kampagnen mit statischen Werbemitteln, also klassische Displaywerbung, und weniger um Bewegtbildspots, um die es ja letztlich gehen soll.
„Ass im Ärmel“: HbbTV 2.0
Abhilfe schaffen soll ein neuer HbbTV-Standard, mit dem ab jetzt die zukünftigen Smart-TVs ausgestattet werden. Schütte-Gravelaar von smartclip zeigt sich optimistisch, wenn es um die programmatische Vermarktung linearer Inhalte über Smart-TV geht. „Der Standard HbbTV entwickelt sich stetig weiter, das ist das Schöne an einer nahezu weltweiten Standardisierung. Mit der Weiterentwicklung von HbbTV 1.5 auf HbbTV 2.0, die in den 2016er TV-Geräten integriert und verkauft wird, sind bereits tiefgreifende Möglichkeiten für die TV-Sender verankert worden. So ist auch das Zusammenspiel zwischen TV und Online-Bewegbild noch komfortabler. Alle Learnings und das Know-how, die auf Anbieter- und Advertiser-Seite durch Addressable-TV-Werbeformate entstanden sind, werden nahtlos für diese nächste Entwicklungsstufe eingesetzt und kommen direkt zur Anwendung. HbbTV ist das Ass im Ärmel der TV-Sender und die Addressable-TV-Plattform dafür, um es neudeutsch zu sagen, „läuft“."
Programmatic in der TV-Klassik: ein zartes Pflänzchen
Auch für die klassische TV-Werbung ist Programmatic mehr und mehr ein Thema. Wobei Programmatic hier vielleicht etwas allgemeiner mit „regelbasiert“ zu übersetzen ist. So hat die Mediaagentur Omnicom Media Group Germany bekannt gegeben, exklusiv AGF-gemessene Werbeblöcke regelbasiert bei digitalen Spartensendern von Goldbach TV Germany einzubuchen. Mit nur einer Belegung werden die Spots in zwei Werbeblöcken um 18.28 Uhr und 20.13 Uhr auf rund 20 Sendern gleichzeitig ausgestrahlt. Dahinter steckt der Wunsch des TV-Mediaeinkaufs, auf die zunehmende Fragmentierung der TV-Landschaft zu reagieren und jedenfalls so Reichweiten und Zielgruppen zu bündeln.
Vorstufe zu Programmatic in der TV-Werbung
Frank Ziegler, Managing Director Investment & Accountability bei der Omnicom Media Group Germany, sieht in der Vereinbarung mit Goldbach Germany eine Vorstufe zu Programmatic Buying in der TV-Werbung. Kleine Reichweiten von digitalen Spartensendern sollen zu einer relevanten Reichweite zusammengelegt werden, auch dies sei eine Facette von Programmatic: „Bisher werden doch meistens nur solche TV-Sender in die Planung aufgenommen, die mindestens um die 1 % Marktanteil haben. Wir versuchen mit Goldbach die Angebote aufzukumulieren, etwa wie bei den Buchungskombinationen im Radio. Der nächste Schritt wäre dann, dass die TV-Sender ihre Angebote dem automatisierten Einkauf anschließen. So könnten wir die Reichweiten selbst zusammenstellen. Erst dann wird der TV-Longtail für uns erst richtig nutzbar“, sagt Ziegler.
Ob der automatisierte Mediaeinkauf auf breiter Front in der TV-Welt Fuß fassen kann, hängt vor allem von den Sendern und ihren Vermarktern ab. „Die Technologien der Vermarkter befinden sich noch in der Anfangsphase. Einen vollständig automatisierten Einkauf von Werbezeiten, bei denen Algorithmen entscheiden, wann und wo der Spot passend zur Zielgruppe ausgespielt werden soll, den gibt es im TV-Einkaufsprozess noch nicht“, sagt Ziegler.
TV-Buchungsprozesse sind noch ziemlich „Old School“
Zwar sind die TV-Buchungssysteme wie „mydas“ von Cantaneo oder „Cool“ des RTL-Vermarkters IP Deutschland bereits online über ein Dashboard zugänglich, über die der Einkäufer dann freie Werbeblöcke einkaufen kann, „aber das ist noch immer ein händischer Prozess, automatisiert passiert hier noch wenig“, sagt Ziegler. Um einen wirklich automatisierten Buchungsprozess zum Laufen zu bringen, fehle es an Standards. „Schnittstellen sind hier das Kernthema. Beim Austausch verschiedener Dateieiformate brauchen wir Schnittstellen, die einen gewissen Standard erfüllen.“
Ziegler ist überzeugt: „Irgendwann werden wir zu einer online-ähnlichen Einkaufspraxis kommen, wo die Werbespots auch in Echtzeit über Adserver ausgeliefert werden.“ Ob dabei HbbTV zukünftig eine größere Rolle für die TV-Werbung spielen wird oder vor allem die Automatisierung des klassischen Buchungsprozesses zuerst an Fahrt gewinnt, ist für Ziegler nicht entscheidend. „Es gibt keine Favoriten, da sich der gesamte Bewegtbildmarkt immer stärker fragmentiert. Als Agentur müssen wir in alle Richtungen denken, weil wir auch alle Gattungen bespielen wollen. Insofern müssen wir auch mit allen technologischen Entwicklungen mitgehen. Das bleibt ein permanenter Prozess.“
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