Die diesjährige TRACKS-Summit in Hamburg hat gezeigt, dass sich die Online-Werbebranche und vor allem das Konzept Cross Channel Advertising weg vom theoretischen Perfektionismus hin zu pragmatischer Kosten-Nutzen-Betrachtung entwickelt. Die Klassik gewinnt auch bei den Digitalspezialisten an Bedeutung, allerdings unter neuen Vorzeichen.
Vielleicht steht Florian Löwenstein, Berater bei der Hamburger Mediaagentur Pilot, stellvertretend für die Branche. Er widmete seinen Vortrag nicht etwa dem nächsten Technikhype oder den psychologischen Tiefenerkenntnissen eines innovativen Attributionsmodells. Stattdessen zeigte Löwenstein eine Fall-Back-Lösung für den Fall, wenn der werbungtreibende Kunde nicht im Besitz tiefschürfender Basisdaten ist und dennoch ein zielgerichtetes Targeting über unterschiedliche Kanäle hinweg und auf verschiedenen Endgeräten erreicht werden soll. Dann – so der Hamburger – müsse man eben auf die Helikopterebene ausweichen und nicht mehr den einzelnen Nutzer ins Visier nehmen, sondern Nutzergruppen, vulgo Zielgruppensegmente. Die weisen Verhaltensähnlichkeiten auf und können so kontextbezogen angesprochen werden. Nicht individuell, aber dennoch relevant.
Willkommen in der neuen Welt der Online-Werbung, der Welt des ökonomischen und funktionalen Pragmatismus. Zwar haben Pilot und andere Mediaagenturen aktuell keine einfache Zeit zu durchleben. Sie geraten unter Druck durch Werbekunden, die selbst DSPs und Real-Time-Expertise aufbauen und Netzwerke, deren Selbstbedienungsansätze immer einfacher werden. Gregor Wolf, deutscher Statthalter von Experian, sieht sie gar „mit dem Rücken zur Wand“. Dennoch ist es bezeichnend, dass Löwenstein feststellt, dass ein Gutteil seiner Kunden gar nicht über die Ressourcen verfügt, Cross Device auf Nutzerebene zu arbeiten.
Ähnlich wie bei Löwenstein so ging es auch bei vielen weiteren Vorträgen und Diskussionen im Verlauf des Tracks Summit 2015 um die Abwägung zwischen dem theoretischen Idealzustand und der gelebten Realität. Da wurde die Intransparenz im Datenmarkt gegeißelt. Facebook und Google säßen wie Glucken auf ihrem Datenmaterial und drängen die Advertiser in die jeweils eigenen Tools oder zu den entsprechenden Dienstleistern Atlas oder DoubleClick. „Das behindert Markteffizienz“, meint Oliver Gertz, Managing Director bei Mediacom.
Kerstin Müller Schulzke von Razorfish legte den Finger auf die Wunde der Advertising Silos. Viel zu oft wird nur über die Verteilung der werblichen Inhalte gestritten und viel zu selten über deren inhaltliche Qualität. „Vielleicht sollte man sich eher darauf konzentrieren, Interesse zu wecken, statt Aufmerksamkeit zu kaufen“.
Der analoge Kunde und Nutzer
Besonders deutlich wurde der Bedarf an nüchterner, emotionsloser Betrachtung beim Thema Mediamix. Mario Szirniks, gestandener Digitalmarketer von Exactag, musste überrascht feststellen, dass der gedruckte Katalog eine enorme Bedeutung für die Warenkorbgröße des Büroversenders Schneider.de hat. „Und da sprechen wir noch nicht über die Spezialkataloge, die der Inspiration dienen sollen.“ Bei denen, vermutet der Duisburger, ist die Papierwirkung sogar noch größer.
Szirniks zeigte in seinem Vortrag allerdings auch, worin die innovative Qualität des neuen Pragmatismus steckt. Analoge Berührungspunkte zwischen Kunden und Unternehmen werden wieder wertgeschätzt, Grundlage dafür ist aber eine ausgereifte digitale Erfolgsmessung, mit allen Techniken, die die Werbebranche in den letzten Jahren hervorgebracht hat.
Das lässt sich exemplarisch am besten am Segment Video zeigen. Bülent Cakir von EComcon und Volker Ballueder von 4Cinsights präsentierten die Wirkkraft von Online-Kampagnen, die mit TV-Ereignissen synchronisiert waren. Das müssen nicht nur eigene TV-Spots sein, sondern können auch solche der Konkurrenz oder redaktionelle Anlässe im TV sein. Anhand der Messung mit Kontrollgruppen lässt sich feststellen, wie die relative Wirkungsveränderung einer synchronisierten Kampagne ist. Zum Beispiel hat der Automobilhersteller Škoda mit einem solchen Ansatz 25 Prozent mehr Engagement gemessen.
Ein Zeitfenster von drei Minuten gilt also optimal für das Erreichen von Zusatzwirkung durch den Second Screen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, den exakten Sendezeitpunkt des jeweiligen Spots zu kennen. Da die Daten der Fernsehsender hier wenig akkurat sind, misst 4Cinsights diese nach, in dem mit einer shazam-ähnlichen Tonerkennung die Sendezeiten protokolliert werden.
Owen Hanks von YuMe untermauerte anhand einer US-Studie, warum dieses Thema immer weiter an Bedeutung gewinnen wird. Laut Studie läuft der Fernseher zwar in der Hälfte aller Haushalte, doch die Aufmerksamkeit der anwesenden Personen erreicht er nur noch bei rund 22 Prozent. Hanks zeigte eindrucksvoll, wie die Zuwendung zum TV-Gerät nach vier Minuten drastisch abbricht und gleichzeitig auf Tablets, Smartphones und Notebooks ansteigt. Nur aktiv auf dem TV gestartete Langformate – vulgo Filme – konnten die Aufmerksamkeit der Nutzer auf Dauer halten. Einige Nutzer, vor allem Frauen, lassen sich von anderen Geräten und deren Inhalten so ablenken, dass sie TV-Sessions mitunter völlig unvermittelt abbrechen.
Diese detaillierten Kenntnisse erlangt die US-Werbebranche aus einem einzigartigen und spannenden Forschungsprojekt. In Las Vegas gibt es die TV City, ein Feldforschungslabor zur Beobachtung der Nutzer in realitätsnah nachgestellten Wohnzimmern.
Videospezialistin Kathrin Kaufmann von der Hamburger Agentur Elbdudler betonte ergänzend, dass es sehr wichtig sei, für jeden Kanal eine eigene Bild- und Videosprache zu entwickeln und nicht anzunehmen, dass der Fernsehspot 1:1 auf YouTube als PreRoll funktioniert. Und wie um das zu illustrieren, zeigte zum Abschluss des Tages Andreas Groke von Videobeats dann doch noch eine echte Online-Innovation nämlich Video-Retargeting mit extrem individualisierten Botschaften. Der Darsteller im Video spricht den Nutzer konkret bei seinen geäußerten Interessen an: „Sie suchen ein Ferienhaus in Spanien mit Pool und Platz für Ihren Hund?“ Zwar wird die Reichweite durch das Targeting sehr dünn, doch die Conversions kompensieren das.
Und auch Andreas Groke ist sich bewusst, dass Onlinewerbung nach wie vor nur ein kleiner Teil des gesamten Werbekuchens ist. Sein Tool sei nicht nur gut dafür geeignet, User online mit Video zu adressieren, sondern das Werkzeug ist auch eine wunderbare Testumgebung für unterschiedliche Spots. Und der Beste aus dem Test kommt dann … ins Fernsehen.
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