Vor einem Jahr führte der E-Commerce-Riese Otto ein dynamisches Attributionsmodell ein. Nun ist das Ausgangspunkt für den programmatischen Mediaeinkauf, der durch eine eigene DSP realisiert wird. Welche Konsequenzen hat das für den Marketingalltag in Hamburg?
Wird Brand gegen Generic benachteiligt? Welcher Publisher ist ein guter Influencer, ein guter Closer? Ist Display wirklich in der Menge nötig? Ist Retargeting ein Kannibale? Mario Szirniks, Geschäftsführer von Exactag, nahm genau diese Fragen als Ausgangspunkt für einen Vortrag zum Thema dynamische Attribution auf dem letztjährigen TRACKS Cross-Channel Advertising Summit in Hamburg. Fragen, die jeden Werber umtreiben sollten, und Fragen, die vor allem dann schwer zu beantworten sind, wenn man ein sehr breites Angebotssortiment führt und das auch gleich noch von zahlreichen externen Faktoren abhängig ist.
Solche und ähnliche Fragen trieben auch Kerstin Pape um. Die Online-Marketing-Leiterin von Otto war sich im Klaren darüber, dass eine lineare Pfadanalyse für die Attribution zu kurz greift und dass die klassische Badewanne, die den ersten und letzten Kontakt der Kundenreise stärker gewichtet als die Kontakte dazwischen, für ihre Zwecke zu plump ist. Im Mai 2013 implementierte das Performance-Team bei Otto erstmals ein dynamisches Attributionsmodell. Grundlage war das statistische Verfahren der logistischen Regression, das – vereinfacht ausgedrückt – eine Kette voneinander abhängiger Variablen berechnet, deren Ausgangsverteilung eben nicht notwendigerweise eine Normalverteilung ist.
Was in der Theorie komplex ist, resultiert in recht einfachen, plastischen Ergebnissen. Jedem Kanal wird ein Wert zugewiesen, der seinen Anteil am Deckungsbeitrag kennzeichnet. Ist der Wert hoch, leistet der Kanal einen großen Beitrag und bekommt weiteres Budget zugeordnet, weil der errechnete Mehrwert größer ist als die Grenzkosten. Offensichtlich war der Deckungsbeitrag des Affiliate-Marketings nicht ganz so hoch. „Mit der Einführung des Attributionsmodells hat beispielsweise Affiliate-Marketing bei uns durch die veränderte Nachfragezuordnung am stärksten verloren“, sagt Kerstin Pape gegenüber Adzine.
Im April dieses Jahres zündete Pape die zweite Stufe. Otto gab bekannt, mittels eigener DSP in den programmatischen Einkauf der Werbeflächen einzusteigen. Grundlage der Budgetallokation ist eben dieses evaluierte Attributionsmodell.
Welches Budget für wen?
Ein solches Vorgehen kann einer Marketingabteilung einiges an Kopfzerbrechen bereiten. Schließlich entscheidet das Attributionsmodell über die Budgetverteilung. Kombiniert mit programmatischem Einkauf entscheidet es aber im Idealfall auch über die Budgethöhe, denn die Software wird natürlich darauf optimiert, Kanälen mit gutem ROI noch weiteres Budget zu geben. Das kann gesetzte Budgetgrenzen auch schon mal sprengen.
Otto steuert die Kanäle nach relativem Deckungsbeitrag und hat für jeden Kanal Zielwerte festgelegt. Es gibt eine Budgetobergrenze, aber wenn die Kanäle besonders gut abschneiden, skaliert nicht nur das Budget, sondern auch der Umsatz. Das gilt freilich nur, solange der errechnete Deckungsbeitrag für den Einzelkanal auch stimmt. Eine Schwierigkeit lauert zum Beispiel im Neukundengeschäft. Hier wird immer ein „Marketing-Beitrag“ zur Kundengewinnung eingerechnet. Da aber keine Kaufhistorie vorliegt, handelt es sich dabei um eine Schätzung, die sowohl von Produktsegment zu Produktsegment als auch zwischen unterschiedlichen Branchen erheblich variiert. Und auch der zeitliche Zusammenhang zwischen Werbekontakt und Conversion erzeugt hier Unschärfe: „Ein Risiko besteht dann, wenn ich den ROI nicht schnell berechnen kann, zum Beispiel wenn der Kunde in bestimmten Marktsegmenten erst ein halbes Jahr später konvertiert. Das hängt vom Kundensegment ab“, so Szirniks.
Um problematischen Ausreißern vorzubeugen, setzt Kerstin Pape auf den menschlichen Faktor: Bei Otto sollen die Kanalverantwortlichen täglich nach der Kanalperformance schauen. Teamübergreifend trifft man sich einmal wöchentlich zur Diskussion der Entwicklungen. Dadurch kann das Otto-Marketing nicht nur auf die Analysezahlen schnell reagieren, sondern auch eine qualitative Interpretation der Daten ergänzen. Es ist ja durchaus denkbar, dass ein Kanal insgesamt schlecht funktioniert und vom dynamischen System deshalb abgewertet wird, wogegen einzelne Publisher in diesem Kanal dennoch einen positiven Deckungsbeitrag abliefern. Das zu ermitteln, obliegt den Kanalverantwortlichen. Und sie können auch von Hand nachsteuern, wenn zum Beispiel bestimmte Publisher als besonders wertvoll eingestuft werden, etwa weil es sich um populäre Medienhäuser handelt.
Idealerweise kann die Software aber auch solche Differenzen innerhalb der Kanäle erkennen. Mario Szirniks arbeitet aktuell an einer verbesserten Version des Attributionsmodells für Otto, das nicht nur holzschnittartig nach Kanälen unterscheidet, sondern die Deckungsbeiträge einzelner Publisher ausweist. „Betrachtet man die Affiliates international, dann werden diese vermutlich in vielen Attributionsmodellen überbewertet, national sieht das anders aus“, so Szirniks. Tatsächlich stellt er aber fest, dass diese Überbewertung aktuell bei vielen Budgets zu finden sein wird. Die Branche spricht unverhohlen von den Gutschein-Spammern, die den letzten Klick abgreifen, obwohl die Kaufabsicht des Kunden längst besteht.
Tatsächlich hat Kerstin Pape hier vertraglich auch einen weiteren Sicherheitspuffer eingebaut. Zwar wird die Budgetallokation dynamisch von der Software vorgenommen, doch erfolgt die Auszahlung an die Affiliates ja erst nach der Auswertung der Retouren.
Performance Branding
Apropos Auswertung. Eine spannende Frage beim Einsatz eines dynamischen Attributionsmodells mit programmatischem Einkauf ergibt sich, wenn man den Blackbox-Charakter eines solchen Systems betrachtet. Solange keine großen Ausreißer stattfinden, ist weder der Kanalverantwortliche noch die Marketingleiterin dazu aufgerufen, sich die Zahlen genauer anzuschauen. Dabei steckt darin die gesamte Lernentwicklung des Systems. Es schaltet zum Beispiel automatisch schlecht funktionierende Banner ab. Wie spielt man dieses Wissen zurück an die Grafikabteilung? Gleiches gilt für die Conversion-Leistung der Landeseiten.
Auch hier vertraut Kerstin Pape ihren Kanalverantwortlichen. Die Automatik ersetzt nicht die qualitative Analyse, so ihr Credo. Stattdessen bilden die Analyseberichte die Grundlage der Strategiemeetings. Ein bisschen Konkurrenz zwischen den Kanalmanagern kann auch nicht schaden, wenn es um die Höhe der Kanalbudgets geht.
Während Pape ihr Performance-Team hinter sich weiß, steht nun ein heißer Herbst vor der Tür. Dann will man im Otto-Online-Marketing in das Thema View-Tracking einsteigen und hier geht es darum, auch die Effekte von Branding-Kampagnen dem Deckungsbeitrag zuordnen zu können. Branding-Kampagnen werden aber vom klassischen Ottomarketing durchgeführt, das auch für die Schaltung von TV-Spots oder für das Aufhängen von Plakaten verantwortlich ist. Es ist leicht auszudenken, welche Diskussionen in Hamburg-Bramfeld anstehen, wenn nach den „richtigen“ KPIs für Branding gesucht wird.
Und das ist längst noch nicht alles. Kerstin Pape ist sich wohl bewusst, dass ihr aktuelles Attributionsmodell nur einen Teil der Wahrheit abbildet und der ist vor allem historisch. „Langfristig wollen wir auch externe Informationen, wie zum Beispiel Wetterveränderungen, Kataloganstöße oder auch die Schaltung von TV-Spots, in das Attributionsmodell aufnehmen.“ Ziel ist dann natürlich, Wirkungsvorhersagen treffen zu können.
Timo von Focht, der für Adobe Großkunden im Bereich digitales Marketing berät, sieht genau hier die große Herausforderung: „Das Ausspielen der Werbung ist eben nur eine Seite der Medaille, aber was passiert auf der eigenen Website und welche externen Einflussfaktoren gilt es zu berücksichtigen?“ Aus Fochts Sicht hakt es bei sehr vielen Projekten derzeit nach wie vor an der integrierten Strategie. „Wir sehen die dynamische Attribution in Verbindung mit programmatischem Einkauf immer erst einmal kritisch. Das Modell muss ständig überprüft und verbessert werden und dafür bedarf es entsprechender Strukturen. Kurzfristig ist meistens mit Conversion-Optimierung ein deutlich größerer Uplift zu erzielen.“
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