Was Marketer, Publisher und Kreative über die „Measurement Crisis“ wissen sollten
Michael Schießl, 13. Mai 2013Die Vision von der „Entscheidungsmaschine“ zeigt, wohin sich die Planung und Gestaltung von Markenwerbung im Internet in den kommenden Jahren entwickeln wird. Die meistgenutzten Forschungsmethoden bilden die Eigenschaften von Branding-Kampagnen im Internet nicht zutreffend ab.
Die junge Zielgruppe, Konsumenten zwischen 14 und 29 Jahren, muss Werbungtreibenden und Kreativen noch immer wie eine ziemlich harte Nuss vorkommen, die kaum zu knacken ist. Denn den Entscheidern ist zwar klar, dass sie ihre Budgets nun teilweise ins Internet umschichten müssen, um ihre künftigen Käufer zu erreichen. Zusätzlich zur Buchung von vielleicht zwei, drei TV-Kanälen haben sie nun aber zielsicher darüber zu entscheiden, auf welchen von zigtausend Webseiten sich ihre Zielgruppe tummelt und welche Umfelder sie dabei bevorzugt.
Doch hier beginnt das Dilemma: Woran lässt sich die Effizienz der verschiedenen Kanäle messen? Nur wem klar ist, wie wirkungsvoll die ausgewählten Online-Maßnahmen zur Erreichung der Kampagnenziele beitragen, kann sicher über deren Gewichtung innerhalb des Mediabudgets entscheiden. Und zu genau diesem Zweck wäre es ebenso sinnvoll zu wissen, welche Synergieeffekte entstehen und wie diese zu bewerten sind – sowohl zwischen den Online-Touchpoints untereinander als auch aus der Kombination von Internetmaßnahmen und den Belegungen von TV, Print, Out of Home usw.
Natürlich stehen den Planern schon heute Parameter zur Verfügung, die darauf ansatzweise Antworten liefern. Aber welche davon sind ausschlaggebend und erweisen sich als wirklich valide, insbesondere wenn es um die tatsächliche Wahrnehmung der Werbemittel geht? Die Ad Impressions wurden inzwischen als recht weich definiertes, rein serverbasiertes Ereignis kontrovers diskutiert. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Sichtbarkeit („Visibility“) der Werbemittel auf den Webseiten aufgekommen. Dazu werden von den Werbungtreibenden nun verlässliche Nachweise für die tatsächliche Auslieferung der Werbemittel eingefordert.
Ein kleiner Fortschritt, immerhin. Aber die Aussagekraft bleibt auch hier begrenzt, denn die Visibility sagt nur etwas über die Wahrscheinlichkeit aus, dass ein Banner gesehen wird („opportunity to see“). Ob der Kontakt tatsächlich stattgefunden hat, bleibt vollkommen unberücksichtigt. Auch in einem weiteren Punkt ignoriert das Konzept der Visibility die tatsächliche Wahrnehmung: Denn eine Werbewirkung kann auch bei peripheren Kontakten zustande kommen, also bei Werbemitteln, die etwa ganz am Bildschirmrand platziert sind. Das gilt selbst bei außerordentlich kurzen Wahrnehmungszeiten.
Noch interessanter wird es, wenn ein User die Werbung ein und desselben Anbieters auf verschiedenen Touchpoints im Internet registriert: Hier kommt es zu Verstärkungseffekten im Hinblick auf die Werbe- und Branding-Leistung, da sich an unterschiedlichen Orten platzierte Werbemittel synergetisch ergänzen. Das gilt selbst für Google-Adwords-Anzeigen, die ganz umsonst zur Markenbildung beitragen.
Was leistet das Internet für den Wert der Marke?
Und damit sind wir bei der großen, ganz grundsätzlichen Frage: Wie sehr und in welcher Weise unterstützt das Internet die Industrie beim Aufbau und Erhalt ihrer Marken? Während im Bereich der performancebasierten Werbemaßnahmen oft die nackten Abverkaufszahlen als Wirkungsnachweis akzeptiert werden, herrscht im Hinblick auf die Branding-Effekte von Online-Werbung großes Unbehagen. Denn klassische Medien wie Print und TV stehen diesbezüglich deutlich besser da, etwa wenn es um die Markenerinnerung geht.
Der Grund für das wahrgenommene Leistungsungleichgewicht ist schnell benannt: Ursächlich ist dafür neben den strukturellen Unterschieden zu einem wesentlichen Teil auch die gängige Forschungspraxis. Denn derzeit wird noch versucht, die Werbewirkung von Online-Medien vorrangig mit expliziten Forschungsmethoden zu erfassen. Explizite Werbewirkungsforschung beruht meist auf Fragebögen und Ratingskalen, die von Probanden ausgefüllt werden müssen. Damit nehmen unterschiedlichste Aspekte auf die Beantwortung Einfluss, die sich im Bewusstsein des Teilnehmers abspielen. Ein einigermaßen valides Verfahren: Die explizite Werbewirkungsforschung kann die Abverkaufswirkung von TV-Werbung mit einer Wahrscheinlichkeit von 40 Prozent voraussagen. Werden unterschiedliche Methoden und Quellen miteinander kombiniert, lässt sich die Treffgenauigkeit auf bis zu 80 Prozent steigern.
Fakt ist aber auch, dass die expliziten Forschungsmethoden in einer Zeit entstanden, in der vom Internet noch niemand etwas geahnt hat und von der Aufmerksamkeitsökonomie noch keine Rede war. Sie wurden über Jahrzehnte optimiert, um die Imageeffekte von Zeitungs- und Magazinanzeigen sowie TV-Werbung möglichst präzise zu messen. Für die Abbildung der spezifischen Leistungen von Online-Werbung, die sich in wesentlichen Punkten von Print und TV unterscheiden, sind sie deutlich weniger geeignet. Aufgrund dieser mangelnden Aussagekraft steckt die explizite Werbewirkungsforschung für den Bereich des Internets in einer Krise. Sie wird nur deshalb noch betrieben, weil sich bislang keine wirtschaftlich effizientere Methodik etabliert hat. Eine Frage der Zeit.
Die Konsequenzen der „Measurement Crisis“
Problematisch ist dieser Tatbestand für Publisher, Werbungtreibende und Kreative gleichermaßen. Denn die „Measurement Crisis“ hat zur Folge, dass das Internet in seiner Wirkungskraft für Marken grundsätzlich unterschätzt wird.
- Die Konsequenz für Publisher daraus ist, dass sie ihr Inventar nicht angemessen monetarisiert bekommen. Die Qualität der Werbeumfelder leidet unter einem Werbewildwuchs, der entsteht, weil über das Zusammenwirken der einzelnen Elemente zu wenig bekannt ist
- Für Werbungtreibende entsteht das Risiko, dass Investitionen weitgehend effektlos verpuffen, weil ihre Werbemittel kaum beachtet werden oder trotz Wahrnehmung keine Wirkung entfalten. Unter Umständen arbeitet das Marketing aufgrund der Reduzierung auf explizit erhobene Daten über Jahre komplett an den Erwartungen der Zielgruppe vorbei. Im Extremfall können sogar ablehnende Haltungen gegenüber der Marke entstehen, sogenannte Reaktanzen.
- Kreative müssen sich aufgrund dieses Befundes die Frage stellen, wie ihre Arbeiten den Anschluss an ein immer stärker zahlendominiertes Marketing finden. Entscheider (und ihre Controller) trauen Zahlen heute deutlich mehr als spektakulären Entwürfen. Die Agenturen müssen akzeptieren, dass sich gute Kreation in klaren Performancedaten (KPIs) darstellen lässt, wenn sie zukunftsfähig bleiben wollen. Kreativ-Direktoren sollten die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst nehmen und sich intensiver als bislang mit dem Verhalten des Users befassen.
Was zieht die Blicke des Käufers auf sich, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes? Welche Motive machen den Betrachter buchstäblich sprachlos? Diese urimpliziten Dimensionen liegen auch kreativen Großmeistern am Herzen. Die implizite Werbewirkungsforschung, die vor allem unwillkürliche physiologische Reaktionen wie den Blickverlauf mithilfe des Eye Tracking misst, liefert Indikatoren für den „visual success“, also Messwerte für Aufmerksamkeit und Wahrnehmung. Angst vor spröden Zahlenbergen und der entstehenden Transparenz ist dabei fehl am Platze. Es geht schlichtweg darum, einen engen Dialog zwischen der Kreation und ihren Adressaten herzustellen – und Werbemittel auf dieser Grundlage laufend zu optimieren.
Die Zukunft bringt eine mächtige „Entscheidungsmaschine“
Doch wie kann aus diesem Leitbild gelebte Praxis in der Zusammenarbeit zwischen der Industrie, Agenturen und Publishern werden, wenn sich die Erkenntnisse der impliziten Werbewirkungsforschung weiter durchsetzen? Gefragt ist hier eine Art „Decision Engine“ für das Marketing, die sich aus Erhebungsquellen wie dem Eye Tracking speist und es erlaubt, sämtliche Werbemittel auf Basis eines Panels vorab zu testen. Damit verbunden müssen klare Aussagen über die Abverkaufswahrscheinlichkeiten jedes einzelnen Tools sein, die die zukünftigen Effekte präzise vorhersagen.
So fließt nach und nach ein fundiertes Wissen in die Kreation darüber ein, wie nachweislich wirksame Werbemittel gestaltet werden. Eine solche Entscheidungsmaschine muss skalierbar und hochvalide sein. Sie wird dem Brandmanager die Möglichkeit geben, zu ganz neuen, hocheffizienten Kreationen und Maßnahmen zu kommen.
Und auch das ist nur eine Frage der Zeit.
Über den Autor:
Michael Schießl ist Diplom-Psychologe und geschäftsführender Gesellschafter des 1999 in Berlin gegründeten Marktforschungsunternehmens Eye Square. Schießl arbeitet vor allem im Bereich Marken-, Werbewirkungs- und User-Experience-Forschung und versteht sich selbst als Spezialist für die Erforschung des Impliziten. Neben seiner Tätigkeit für Eye Square ist der gebürtige Bayer Leiter der Regionalgruppe Berlin des Berufsverbands Deutscher Markt- und Sozialforscher e. V. (BVM), Mitglied der European Society for Opinion and Marketing Research (ESOMAR) sowie der Deutschen Werbewissenschaftlichen Gesellschaft e. V. (DWG).
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