Daten sind zurzeit der Treibstoff im performanceorientierten Online-Advertising. Werbung wird am liebsten passend zu Nutzerprofilen und Userinteressen eingeblendet. Wer sich die neuen Schuhe nur anschaut und nicht kauft, wird von ihnen in Form kleiner Banner quer durchs Web verfolgt. Mitunter wochenlang. Und hat der User angebissen und im Shop eingekauft, versucht der moderne Shopbetreiber mit Cross- und Up-Selling-Angeboten in die gleiche Kerbe zu hauen:
Vorschläge, die sich an der Bestellhistorie orientieren, ein Retargeting zu kürzlich angesehenen Produkten und Werbung passend zu den gezeigten Interessen. Es sind wirkungsvolle Konversionsbeschleuniger. Keine Frage. Aber was passiert, wenn jeder E-Commerce-Anbieter eine ähnliche Strategie fährt wie Amazon & Co.? Droht eine Uniformität der Angebote? Und werden Nutzer künftig noch Lust haben, Kaufempfehlungen anzuklicken, die ihnen nichts Neues bieten? Der Teufel steckt – wie so oft – auch hier im Detail.
„Datengetriebenes Marketing ist Fluch und Segen zugleich“, sagt André Morys, Vorstand des E-Commerce-Optimierers Web Arts. Ein Segen sei es, weil es ohne Automation keine Skalierung gebe. Und ein Fluch, weil die Tools noch nicht so weit seien, dass sie gut funktionieren. Der Conversion-Experte erläutert dies mit einem Vergleich aus dem "echten" Leben: „Im Schuhgeschäft findet an der Kasse ein Cross-Selling von Schuh auf Pflegemittel statt. Warum? Weil man es immer braucht und es nicht viel kostet. Die Recommendation Engine sucht jedoch auf Basis meines Schuhs ähnliche Schuhe, die andere Kunden gekauft haben. Das Tool versteht die Kausalität nicht.“ Ohne die "Handarbeit" des guten Verkäufers funktioniere das beste Tool also nicht. „Online-Marketiers leben jedoch viel zu oft noch in der Traumblase des ‚Instant Uplifts‘ wenn es um solche Tools geht – es wird viel zu wenig in die richtigen Ergebnisse investiert“, so Morys.
Welches Potenzial datengetriebenes Marketing und Vertrieb heutzutage bieten, zeigt allein die gigantische Datenmenge, die mittlerweile angesammelt wurde – und wird. Laut den US-Marktforschern von IDC verdoppelt sich das Datenvolumen etwa alle 18 Monate. Marktbeobachter schätzen, dass täglich etwa 2,5 Trillionen Bytes digitale Daten hinzukommen. Eine Trillion ist eine Eins mit 18 Nullen …
Datengetrieben
„Was bringt es, dem Konsumenten Produkte anzubieten, die für ihn nicht relevant sind – beispielsweise einer 12-jährigen Schülerin ein Werbemittel eines Herrenausstatters anzuzeigen, wenn sie sich ausschließlich für ‚junge Mode‘ interessiert. Oder welchen Mehrwert hat ein in Berlin lebender Jugendlicher, wenn eine Konzertreihe für Bayern beworben wird?“, meint auch Bernd Hoffmann. Für den Chief Digital Officer bei MediaCom stellt datengetriebenes Marketing einen zukunftsweisenden Trend dar „und bietet einen Mehrwert für die werbenden Unternehmen und die Konsumenten.“
Produktempfehlungen, die sich auf eine persönliche Bestellhistorie oder den bereits getätigten Kauf von Produkten beziehen, antizipieren nach Ansicht Hoffmanns einen möglicherweise entstehenden Bedarf und sind somit mehrwertstiftend für den Konsumenten. „Die Kaufwahrscheinlichkeit als Zeichen der Relevanz steigt, das belegen Studien sowie auch konkret gemessene Daten“, so der Fachmann.
Auch die Interessen, die User durch ihr Surfverhalten „preisgeben“, können von werbetreibenden Unternehmen gezielt genutzt werden. „Hierbei kommt es darauf an, dass die Daten aktuell sind, die User mit den entsprechenden Angeboten in Kontakt kommen, aber sich auch nicht belästigt fühlen – beispielsweise mithilfe einer richtigen Dosierung durch Frequency Capping.“ Für Hoffmann ist damit auch das Zitat von Henry Ford – „Fünfzig Prozent bei der Werbung sind immer rausgeworfen. Man weiß aber nicht, welche Hälfte das ist“ – hinfällig. „Es hat keine Relevanz mehr“, sagt Hoffmann.
Eine Frage der Dosis
Auch für Michael Altendorf, CEO und Co-Founder der Internettechnologiefirma Adtelligence steht fest: Ein datengetriebenes Advertising führt nicht in eine Sackgasse. Im Gegenteil: „Wenn man sich im Vergleich heute die TV-Werbung einmal anschaut, wäre man froh, wenn einmal ein Produkt gezeigt werden würde, was einen interessiert.“ Auch aus seiner Sicht kommt es dabei aber auf die richtige Dosierung an. „Die hohen Conversion-Raten zeigen ja, dass die Nutzer auch kaufen, wenn die Werbung passend ausgesteuert wird“, so Altendorf. Jedoch bedeute dies nicht, dass eine Nutzeransprache unkreativ passieren muss. Hier seien die Kreativagenturen gefordert. Allein auf die Technologie zu setzen und dabei die Kreation zu vernachlässigen, gilt als Spiel mit dem Feuer; eine ausgewogene Kombination aus kreativer und persönlicher Ansprache hingegen als Erfolg versprechend.
Für E-Commerce-Experten Morys entscheiden zwei Faktoren über den Erfolg: Der richtige Zeitpunkt und der richtige Inhalt. „Dabei geht es im Grund nur um maximale Relevanz. Auf der Produktseite sind eventuell andere Produktalternativen interessant – im Check-out eher die Ergänzung. Direkt nach dem Warenkorbbutton ist jedoch keines von beiden relevant.“ Letztlich gehe es um gutes Verkaufen: „Ein Händler der weiß, welche Produkte wann relevant sind, kennt die Grundlage für optimale Produktempfehlungen, egal ob Onsite, per Newsletter oder im Retargeting.“
Differenzierungspotenzial nutzen
Für Marktkenner sind kundenindividuelle Produktempfehlungen grundsätzlich ein probates Mittel, um den Kunden zu einem Kauf zu animieren. „Genau an dieser Stelle muss man auch unterscheiden, ob es sich um Empfehlungen auf Basis der individuellen Vorlieben und Bestellhistorie handelt oder um Empfehlungen, welche auf statistischen Daten anderer Nutzer basieren“, sagt Henner Heistermann, Geschäftsführer der E-Commerce-Beratung ShopStrategen. So nutzt Amazon beispielsweise beide Techniken und ergänzt diese um weitere Empfehlungen wie Bestseller, beliebteste Artikel, redaktionelle Angebote oder spezielle Sonderangebote. Genau in diesen unterschiedlichen Alternativen liegt laut Heistermann das Differenzierungspotenzial. „Wo Marktplätze wie Amazon oder Zalando, welche mit gigantischen Artikelmengen arbeiten, auf eine Reduzierung der Ergebniskomplexität durch datenbasierte Empfehlungen angewiesen sind, können viele Shops ihre Produkte ganz anders in Szene setzen“, so der Berater. Einen Königsweg gebe es dabei nicht. Die Vorgehensweise sei stark abhängig vom Businessmodell und der Positionierung.
Datengetrieben erfolgreich
Amazon gilt als Vorreiter für eine datengetriebene Marketing- und Vertriebsstrategie. Sie ist ein wichtiger Baustein in der Erfolgsgeschichte des US-amerikanischen Internethändlers, der von Wikipedia daher sogar als „Social-Commerce-Versandhaus mit breitgefächerter Produktpalette“ beschrieben wird. Aber auch für spezialisierte Online-Händler wie Mister Spex ist datengetriebenes Online-Marketing die Grundlage für eine profitable Gewinnung von Neukunden und ein effektives Bestandskundenmanagement. Auf diese Weise kann der Online-Shop für Markenbrillen für jede Produktgruppe und jeden Marketingkanal die passenden Maßnahmen bestimmen und deren Erfolg messen. Im Online-Marketing nutzt das Berliner Unternehmen verschiedene Tools für die datengetriebene Akquise von Neukunden und Reaktivierung von Bestandskunden, unter anderem Retargeting-Maßnahmen und Behavioral Targeting im Display-Advertising. Mit einem Bidding-Tool werden SEM-Kampagnen optimal ausgesteuert.
„Für uns als Online-Player mit einem margenstarken Produkt und innovativem Geschäftsmodell ist ein datengetriebenes Online-Advertising eine sehr effektive Methode, Kunden anzusprechen“, sagt Robert Käfert, Marketingleiter Mister Spex Deutschland. Der entscheidende Vorteil sei, dass das Unternehmen seine Marketingmaßnahmen so sehr genau bestimmen, messen und analysieren kann. Dadurch sei man in der Lage, dem Kunden zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Informationen für seine Kaufentscheidung zu liefern. „Im Schnitt kaufen die Deutschen nur alle 2 – 3 Jahre eine neue Brille. Für uns ist es wichtig, genau im richtigen Bedarfsmoment alle relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen“, so Käfert. Die große Herausforderung besteht darin, die gesammelte Datenmenge richtig zu interpretieren und die passenden KPIs zur Bewertung der einzelnen Marketingmaßnahmen festzulegen.
Konsumenten ernst nehmen
Mediaexperte Ralf Scharnhorst betont, dass neben den neuen Daten auch die alten weiter wichtig bleiben: Soziodemografie, Kontext (u. a. Wochentag/Uhrzeit) und Content-Umfeld. „Das Umfeld hat einen enormen Einfluss auf die Wahrnehmungschance und die Übertragung von Vertrauen. Im Hype der neuen Daten werden die alten zunächst oft vernachlässigt, aber das wird sich einpendeln“, ist sich der Inhaber von Scharnhorst Media sicher.
Und ebenfalls gilt nach wie vor: Wer Nutzer für neue Produkte begeistern möchte, muss zur richtigen Zeit auf dem richtigen Device mit dem richtigen Produkt ins „Relevant Set“ des potenziellen Konsumenten rücken. Dafür ist es notwendig, den Konsumenten 'kennenzulernen', was wiederum Daten als Grundlage erfordert. „Nur wenn der Konsument sich in seinen Bedürfnissen ernst genommen fühlt, wird Werbung auch in der Zukunft funktionieren“, ist MediaCom-Mann Hoffmann überzeugt. Auch Heistermann rät dazu, die Datenerhebung und Auswertung bezüglich der Nutzerinteressen nicht zu ignorieren. „Jeder E-Commerce Betreiber sollte genau wissen wie seine Nutzer ticken. Nur so kann er Kundenbeziehungen und Sortimentsstrategie weiterentwickeln.“
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