Neben einigen wenigen Webanalyse-Anbietern sowie Toolanbietern für Multichannel Tracking, sind es vor allem die Aderver-Systeme der Agenturen, die sich dem ganzheitlichen Kampagnencontrolling verschrieben haben. Nun gibt es aber die ersten Spezialanbieter, die mit eigenen Plattformen die „digitale Brücke“ über die Onlinekanäle schlagen wollen, um Vertriebs- und Marketingziele besser in Einklang bringen zu können. AdClear aus Berlin ist so ein Vertreter dieser neuen Plattformanbieter. Wir sprachen dazu mit Dimitrios Haratsis, Gründer und Geschäftsführer von AdClear, über die Customer-Journey-Analyse.
Adzine: Customer-Journey-Analysen sind in aller Munde. Wie kommt es zu dieser Entwicklung?
Haratsis: Nach der Einführung des Post-View-Trackings hat sich einiges im Markt verändert. Vor dem Jahr 2001 lebten Performance-Marketing und Display-Advertising in einer Art friedlicher Symbiose. Mit den neuen Tracking-Möglichkeiten kam plötzlich ein gewaltiger Shift in Richtung Performance-Marketing. Heute aber ist der Wachstumsmotor im Online-Marketing die View-Vermarktung. Daher stellen die Marketingabteilungen immer wieder die entscheidenden Fragen.
Adzine: Welche?
Haratsis: Werden die Sales den eigenen Marketingmaßnahmen überhaupt richtig zugeordnet? Ist der Sales-Erfolg den klassischen Marketingaktivitäten oder aber den Vertriebsaktivitäten, den Performance-Aktivitäten, zuzuschreiben? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den einzelnen Kanälen, zwischen Klicks und Views? Diese Fragen erfordern neue Eruierungsmethoden und führen somit zum kanalübergreifenden Controlling der Online-Maßnahmen. Nichts anderes ist die Customer-Journey-Analyse. Wir verlassen damit den Tunnelblick und bekommen eine Vogelperspektive.
Adzine: Welche Kanäle werden dabei miteinbezogen?
Haratsis: Alle Online-Kanäle lassen sich klickbasiert erfassen. Der Schwerpunkt der Analyse sollte allerdings die Erfassung der Views sein, denn diese sind der wichtigste Bestandteil einer Customer Journey und wurden bis dato nicht erfasst. Display-, Affiliate- oder E-Mail-Marketing-Maßnahmen lassen sich viewbasiert erfassen. Dabei wird bereits der Sichtkontakt eines potenziellen Kunden mit dem Werbemittel erfasst – auch ohne einen Klick durch den Nutzer.
Adzine: Sie erhalten nur dort Zugang, wo Ihr Kunde, also der Werbetreibende, aktiv ist oder Werbeplätze gebucht hat?
Haratsis: Wir setzen die Pixel auf den Seiten des Kunden, verpixeln oder vertaggen die Werbemittel unseres Auftraggebers und schaffen so die erforderlichen Schnittstellen. So zeichnen wir die Informationen zu den Views und Klicks potenzieller Kunden auf. Bei Abschluss eines Kaufvorgangs stellt unsere Datenbank dann anhand der vorhandenen registrierten Kontakte die individuelle Customer Journey zusammen – also die vollständige Kontakthistorie vor dem Kauf. Das Besondere an AdClear ist, dass wir dabei eben nicht nur Klicks, sondern auch die Views erfassen.
Adzine: Aber nach welchen Gesichtspunkten werten sie dieses Views und Klicks nun aus?
Haratsis: Es geht darum, mithilfe von Aggregation typische Fragen des Werbetreibenden zu beantworten: Welche Online-Kanäle spielen für das Kundenziel welche Rolle? Drei Kontaktpunkte auf Bild.de, Spiegel Online und Welt Online können in unserem User-Interface zu einem Kontaktpunkt für den Kanal „Display“ aggregiert werden, weil es sich um drei aufeinanderfolgende Ereignisse innerhalb des gleichen Kanals handelt. Dieses Prinzip ist auf alle Kanäle übertragbar.
Adzine: Dann haben sie Tausende von Kontaktpunkten einzelner User, und dann?
Haratsis: Gleiche User-Abläufe werden wie beschrieben aggregiert, dann kennen wir die Kontaktstrecken und beginnen mit dem Modelling.
Adzine: Was bedeutet das?
Haratsis: Wir wenden ein algorithmisches Verfahren an, das abhängig von der Position eines Kanals in den aggregierten Kontakthistorien den Werbemaßnahmen einen entsprechenden Anteil an der Wertschöpfung zuweist. So entsteht eine neue Erfolgsrechnung, die sich dann mit den angefallenen Kosten vergleichen lässt. Damit werden Schwachpunkte und Optimierungspotenziale sichtbar. Auf Basis dieser Informationen können die Budgeteinsätze für die unterschiedlichen Online-Kanäle auf ihren Erfolg überprüft und bei Bedarf angepasst werden.
Adzine: Wie kann das in der Praxis funktionieren, wenn viele Agenturen oder Dienstleister aus den unterschiedlichen Bereichen die Budgets für den Advertiser verwalten und einsetzen?
Haratsis: Das ist ja gerade das Problem, das wir lösen können. Diese vielen Dienstleister kommunizieren miteinander meist gar nicht. Daher sehen wir uns als technische, skalierbare Plattform, die beim Werbetreibenden oder seiner Leadagentur zum Einsatz kommt und ihm hilft, Wirkungszusammenhänge seiner Maßnahmen zu erkennen.
Adzine: Könnte man diese neue Budgetverteilung oder -allokation auch dynamisch aus dem System heraus realisieren?
Haratsis: Gehen wir von einer typischen Kontaktstrecke wie Display-Marketing, Search-Advertising und Affiliate-Marketing aus, dann können Werbetreibende mit den neuen Erkenntnissen die Budgets zeitversetzt justieren. Aus Sicht des Werbetreibenden ist das immer eine asynchrone Zielsetzung. Eine dynamische Budgetierung würde bei Performance-Partnerschaften wie Affiliate-Marketing oder SEA funktionieren, nicht aber bei Display-Advertising, denn der Erfolg dieser Maßnahmen ist erst nach einiger Zeit sichtbar und messbar. Die Budgetanpassungen geschehen hier immer erst im Anschluss.
Adzine: Ab welcher Größe des Advertisers macht eine Customer-Journey-Analyse überhaupt Sinn?
Haratsis: Werbetreibende, die mehr als einen Online-Kanal nutzen, haben bereits eine Customer Journey. Schon hier lohnt es sich, diese zu analysieren, um Kausalitäten und Abhängigkeiten der zwei Online-Maßnahmen zu bestätigen oder zu überdenken.
Adzine: Und welches Datenvolumen braucht es denn für Annahmen, die zu sinnvollen Ergebnissen führen sollen?
Haratsis: Das hängt vom Umfang der Marketingmaßnahmen ab. Große E-Commerce-Betreiber wie etwa Telekommunikationsunternehmen haben ein Datenaufkommen von 1 bis 3 Milliarden Adviews im Monat. Dank dieses Volumens ist es ein Leichtes, sehr schnell vernünftige Erkenntnisse aus den Daten abzuleiten. Wenn wir aber über einen kleinen E-Commerce-Treibenden nachdenken, der etwa nur auf Suchmaschinenmarketing (SEA) und Affiliate-Marketing setzt, ist die Zeitspanne ungleich höher, um zu validen Ergebnissen zu gelangen.
Adzine: Wenn also ein Advertiser keine Display-Werbung schaltet, dann ist das schon mal schlecht für die Customer-Journey-Analyse, oder?
Haratsis: Je mehr Kanäle im Einsatz sind, umso größer ist das Traffic-Aufkommen und umso kürzer die erforderliche Zeitspanne zur Erkenntnisgewinnung. Wenn Display aber nicht im Einsatz ist, liegt der Fokus auf der Optimierung bestehender Maßnahmen wie Affiliate und Search. Ein besseres Verständnis der Wechselwirkungen der verschiedenen Werbeträger ist immer hilfreich.
Adzine: Lohnt sich eine Customer-Journey-Analyse also auch für E-Commerce-Betreiber, die nur auf Performance-Marketing setzen?
Haratsis: Unbedingt. Auch im Performance-Marketing gibt es ungenutztes Optimierungspotenzial, z. B. im Affiliate-Marketing. Werbetreibende, die einmalig ein Konditionsmodell verabschiedet haben und ihre Affiliates dann nach unterschiedlichen Regeln provisionieren, haben die Abhängigkeiten der Affiliatemodelle untereinander nicht analysiert. Ohne eine Customer-Journey-Analyse wissen sie z. B. nicht, ob Gutscheinpartner oder Gutscheinportale die bestehenden Sales ergänzen oder kannibalisieren. Das Gleiche gilt für den Einfluss der Contentportale, deren tatsächliche Wirkung erst in einer näheren Betrachtung sichtbar wird. Diese Fragen können nur kanalübergreifend, also über eine Customer-Journey-Analyse beantwortet werden.
Adzine: Sie sprechen sich klar gegen ein „Last-Cookie-Wins“-Abrechnungsmodell aus. Uns erscheint das auch logisch, weil es nicht die Realität der Customer Journey widerspiegelt. Aber in der Praxis muss man auch feststellen, dass die Abrechnung mit einem einzelnen Partner vieles für den Advertiser leichter macht oder?
Haratsis: Das ist wahr, aber zu kurz gedacht. Die Customer-Journey-Analyse zeigt relativ eindeutig, dass an einem Sale typischerweise mehrere Kontaktpunkte – Views und Klicks – beteiligt sind. Eine Verprovisionierung nur des letzten Kontaktpunkts geht somit an der realen Wertschöpfung vorbei. Entlohnt der Advertiser seine Publisher nicht gemäß ihrem Beitrag am Sale, werden sich diese nach anderen Partnern umschauen, die ihre Leistung bereits erkannt haben und entsprechend honorieren. Damit führt eine Multi-Attribution zu einer höheren Effizienz und so mittelfristig auch wieder zu Marktwachstum, von dem alle Beteiligten profitieren.
Adzine: Über welchen Zeitraum wird denn die Journey eines Users gemessen?
Haratsis: Das ist branchenspezifisch. Die meisten Cookies haben ja eine Lebensdauer von 30 Tagen. Man kann aber im E-Commerce sagen: Umso höher der Wert eines Warenkorbes, umso länger dauert auch die Journey des Nutzers.
Adzine: Und womit fängt eine Customer Journey für gewöhnlich an?
Haratsis: Das kann man nicht sagen, weil die Strahleffekte zum Beispiel einer klassischen, CPM-basierten Display-Werbung unbekannt sind. Und damit kommen wir zu einer uralten Legende.
Adzine: Die da wäre?
Haratsis: Performance-Marketing sei günstig und Display-Werbung teuer. Das kann so ohne Weiteres nicht stimmen. Jeder Performance-Marketing-Profi weiß, dass nach Schaltung von klassischer Display-oder Offline-Werbung die Sales in den Performance-Marketing-Kanälen steigen. Performance-Marketing profitiert also vom Display-Advertising – ein Zusammenhang, der in den bisherigen Modellen nicht berücksichtigt wurde.
Adzine: Und vom Radio, Plakat, Print und TV-Werbung, …
Haratsis: Absolut. Die digitale Welt ist nur ein Teil der Wertschöpfungskette. Die große Vision der Werbetreibenden ist schließlich, einen ganzheitlichen, dynamischen Mediaplan zu entwickeln, der auch beherrschbar ist. Doch bevor es soweit ist, brauchen wir auf digitaler Seite erst einmal die komplette Kopplung aller Klicks und Views aus dem Display- und Performance-Marketing.
Adzine: Apropos Beherrschung: Kann man ohne Cookies überhaupt eine Customer-Journey-Analyse durchführen und wie verhält es sich mit dem Thema Cookie-Deletion auf Nutzerseite?
Haratsis: Die Cookie-Deletion ist für eine Customer-Journey-Analyse kein wirkliches Problem; solange es sich um einen festen statistischen Wert handelt, kann man diesen in die Analyse einbeziehen, auch wenn damit eine leichte Unschärfe entsteht. Mittelfristig arbeitet der Markt beispielsweise mit der Fingerprint-Methode dazu bereits an Alternativen.
Adzine: Herr Haratsis, vielen Dank für das Gespräch.
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