Autos, Turnschuhe, Politikplattformen, Waschmittel, Sitzbezüge in Zügen, Fast Food: Es gibt eigentlich kein Produkt, das sich nicht mithilfe des Social Web entwickeln und testen lässt. Unternehmen beginnen gerade erst, das enorme Marketingpotenzial des Social Web für sich zu erschließen.
Jedem noch so kreativen Unternehmen, das seine Innovationen aus einem unternehmensinternen Pool schöpft, gehen irgendwann einmal die Ideen aus. Neuen Input kann es dann nur von außen geben. Das Social Web scheint dafür prädestiniert. Denn wer kennt seine Bedürfnisse und die Schwächen eines Produktes besser als der Verbraucher? Über Facebook, Twitter & Co. gelangen die Unternehmen an ganz neue Erkenntnisse über ihre Produkte und Marken. „Man muss sich klar machen, dass die meisten Unternehmen bei der Produktentwicklung jahrzehntelang in relativ dichtem Nebel unterwegs waren“, betont Martin Oetting, Forschungsleiter bei der trnd AG, Münchner Dienstleister für Mundpropaganda-Marketing.
Aufgrund der Massenproduktion, -kommunikation und -marktforschung seien die Daten, die über Konsumentenmeinungen verfügbar waren, „im besten Fall außerordentlich vage“ gewesen, kritisiert Oetting. Erfassungssysteme, die dazu noch Kreativität, Entdeckungsfreude und die Bereitschaft zum Mitwirken einfangen konnten, habe es überhaupt nicht gegeben. „Daher wissen die Firmen häufig nur sehr wenig über die Menschen, die ihre Produkte kaufen“, winkt Oetting ab.
Das Social Web kann hier Abhilfe schaffen. Bei richtigem Einsatz können Crowdsourcing-Maßnahmen erhebliche Mehrwerte erzielen, wenn durch sie neue und qualitativ hochwertige Ideen generiert werden. Das bedeutet aber auch: Der Erkenntnisgewinn ist mit Bedingungen verknüpft. Zwar weicht die ursprüngliche Angst vieler Marketingverantwortlicher vor der unberechenbaren Masse nun einer gewissen Experimentierfreude – immerhin ist inzwischen gut die Hälfte der 120 größten deutschen Unternehmen auf Facebook aktiv. Das richtige Maß zwischen unternehmerischer Kontrolle und kreativer Freiheit der Masse zu finden, ist aber nach wie vor ein Balanceakt. Kontrolliert und reglementiert das Unternehmen zu stark, wird es für den User unattraktiv. Schwemmt eine ungeheure Welle an Input und Ideen ins Unternehmen, stößt es irgendwann die Grenzen des Machbaren und Produktiven.
Intrinsische Motivation: Ich kann etwas bewegen
Die Vorteile lassen Skeptiker aber nach und nach verstummen. „Das Web bietet uns heute die Möglichkeit, Menschen bei allen ihren spontanen Äußerungen zu Produkten und Marken zu beobachten. Das ist eine fantastische Fundgrube“, schwärmt Oetting. Und hier sind weder durch Branchen noch durch Produkte oder Phasen des Produktentstehungsprozesses Grenzen gesetzt, erklärt Marketingberater Boris Lakowski: „Das Social Web eignet sich zur Einbeziehung von Kundenanregungen von der Ideenfindung über Konzeptscreenings und Produktevaluationen bis hin zu Kommunikations- und Werbemitteltests.“ Arten, wie man den User dabei involviert, gibt es nach Einschätzung von Lakowski dabei „so viele, wie es ‚Tuworte‘ gibt“.
Maximilian Rapp, bei der Hyve AG verantwortlich für Social-Media-Projekte, definiert mehrere Methoden: „Man involviert Konsumenten, indem man einen Wettbewerbsgedanken aufbringt, aktive User incentiviert und einen Mehrwert bietet.“ Eine zentrale Rolle spielt die intrinsische Motivation: Ich kann mit meiner Aktion etwas bewegen. So hatte Hyve eine Online-Dialogplattform für die Bayerische Staatskanzlei entwickelt, auf der Leute ihre Ideen für politische Inhalte zu den Themen Innovation, Familie und Bildung einbringen konnten und die sogar in die Regierungserklärung der Bayerischen Staatserklärung eingeflossen sind. Hier war die Motivation eindeutig: Ich kann die Politik beeinflussen und etwas bewegen. Als Incentive durften die zehn aktivsten User an einem Offline-Workshop teilnehmen, mit Staatssekretär und Ministerpräsident.
„Konsumenten wollen nicht alle passiv sein“, hat auch Martin Oetting beobachtet. „Wenn man online eine entsprechende Einladung ausspricht, melden sich Menschen, die aktiv und mit Begeisterung den Unternehmen bei der Entwicklung neuer Produkte und Verbesserung bestehender mithelfen wollen. Und die dafür nichts erwarten als Anerkennung und die Verbesserung ihres Lebens, die sie selbst aus den neuen Produkten ziehen.“
Die Faktoren, von denen das Involvement abhängt, haben sich dabei erheblich differenziert. In der Kaufverhaltenspsychologie beschrieb Involvement bisher einen inneren Zustand des Konsumenten, eine mehr oder weniger starke persönliche Nähe oder „Ich-Beteiligung“ zu einem Thema oder Produkt. „Die klassische Marketinglehre geht dabei oft vereinfachend davon aus, dass dieser Grad der Beteiligung im Wesentlichen vom Kaufrisiko abhängt, dass der Kunde subjektiv wahrnimmt. Grundsätzlich zählt man so z. B. Autos zu den High-Involvement-Produkten und Lebens- oder Putzmittel zu Low-Involvement-Produkten“, erklärt Boris Lakowski. Anhand von Buzz-Analysen kann man häufig beobachten, dass klassische High-Involvement-Produkte auch im Social Web stärker diskutiert werden als klassische Low-Involvement-Produkte.
Über Waschmittel wird so leidenschaftlich diskutiert wie übers iPhone
Doch so einfach ist es nicht. Versicherungen beispielsweise, die wegen des subjektiv empfunden Risikos zu den High-Involvement-Produkten gehören, werden im Social Web deutlich weniger diskutiert. „Vermutlich weil viele Menschen das Thema Versicherungen emotional eher meiden, weil es als komplex und unangenehm empfunden wird“, vermutet Lakowski. Ein allein auf Kaufrisiko abstellendes Verständnis von Involvement ignoriere nach seiner Einschätzung fast alle komplexen Sozialisationseffekte von Konsumenten. „Eine persönliche Nähe oder Ich-Beteiligung entsteht aber vor allem durch mittelbare und unmittelbare Interaktionserfahrung“, gibt er zu bedenken. Martin Oetting pflichtet bei: „Wenn Waschmittel ein Low-Involvement-Produkt ist, wie kann es dann sein, dass manche Leute seitenlange Produkttests dazu auf Ciao veröffentlichen? Sie werden Hausfrauen und -männer finden, die sich zum Thema Waschmittel ebenso begeistert äußern wie ein Mac-Fan zum neuen iPhone.“
Doch die Begeisterung für ein Produkt allein reicht zur Aktivierung des Verbrauchers noch nicht aus. „Man braucht ein breites Thema, das die Masse anspricht, wie etwas Kreatives oder Humorvolles“, gibt Maximilian Rapp als Erfolgsfaktor vor. So lässt McDonald’s Burger kreieren oder Daimler per Konfigurator den Smart designen. Auch Unternehmen, zu dessen Marke und Produkte der Verbraucher nur eine indirekte Beziehung hat, nutzen Social Media bereits erfolgreich. So hatte beispielsweise der Transportkonzern Bombardier im Social Web zu einem Designwettbewerb geladen, um das Zuginterieur von morgen entwerfen zu lassen. Um die User zu aktivieren, rührt Hyve für seine Kunden auch die Werbetrommel via Social Media. „Unsere Kampagnen werden immer von einer Social-Media-Kampagne flankiert“, erklärt Rapp. Für jede Crowdsourcing-Plattform gibt es eine Facebook-Fanpage. „Damit holt man gleich die richtigen Leute ab“, betont er.
„Zum Mitmachen lässt sich niemand zwingen. Man muss mit den Menschen arbeiten, die sich auf eine entsprechende Einladung melden“, rät Oetting. Außerdem sollte man mittels eines entsprechenden Datenbankmanagements sehr genau erfassen, wer welche Einladungen zur Mitwirkung annimmt, welche Art Input von wem kommt und wie man künftig auf diese Vorlieben eingehen kann, empfiehlt der Experte. Schließlich sei nicht von jedem potenziellen Kunden jede Art aktiver Mitwirkung zu erwarten. Wie stark sich Verbraucher im Social Web an Produktentwicklungen und -verbesserungen beteiligen, hängt von existierenden Einstellungen, Vorlieben und Vorurteilen ab, ist sich Boris Lakowski sicher. Er hat beobachtet, dass die Beschäftigungsbereitschaft von Usern in Social Media mit allgemeiner Beliebtheit einer Person (Promi-Effekt), einer Branche (Adidas-Effekt) oder eines Themas (Entertainment-Effekt) zunimmt. Im Falle von Ex-Verteidigungsminister zu Guttenberg sorgten sogar zwei Effekte in Kombination für Buzz im Social Web.
Solche Themen zeigen, dass Diskussionen im Social Web generationenübergreifend geführt werden. Bei den 10- bis 30-Jährigen nutzen 96 Prozent Social Media. Die derzeit am stärksten wachsende Nutzergruppe bei Facebook ist zwischen 55 und 65 Jahre alt. Einer Studie des Pew-Instituts in Washington zufolge ist in den USA inzwischen ein Viertel der Internetnutzer, die in sozialen Netzwerken aktiv sind, über 65 Jahre. Auch hierzulande holt diese Nutzergruppe auf. Und Unternehmen haben gerade erst begonnen, das Potenzial des Social Web für ihre Marken und Produkte zu erschließen.