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MOBILE

„Wir haben die Geschichte noch vor uns“

Sandra Goetz, 17. Februar 2011

Das El Dorado dieser Tage heißt Mobile World Congress und findet in Barcelona statt. Nach Jahren der Depression, die nicht allein auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen ist, sorgt der Smartphone-Boom wieder für Goldgräberstimmung in Sachen mobiles Internet. Dass dennoch nicht alles Gold ist, was glänzt, weiß Christoph Räthke aus eigener beruflicher Erfahrung. Im Interview mit Adzine steht der 41-jährige Mobile-Internet-Experte und Gründer des Berliner Mobile Monday Rede und Antwort.

Adzine: Herr Räthke, wenn man der Berichterstattung in den General-Interest-Medien Glauben schenken darf, ist die Stimmung in Barcelona hervorragend. Wie bewerten Sie die die neue Partnerschaft von Nokia und Microsoft. Von einem Google-Verantwortlichen soll der Ausspruch kommen: Zwei Hennen machen noch keinen echten Adler …

Christoph Räthke

Räthke: Unabhängig von den strategischen Fragen, über die jetzt alle diskutieren, ist das meiner Ansicht nach eine gute Sache für den Handy-Kunden. Denn Windows Phone 7 ist schlicht und einfach eine schicke, elegante Plattform mit toller User Experience. Und Nokia kann nach wie vor leistungsfähige Handys bauen und ist im Bereich Added Services – Navigation, Medienwiedergabe – mindestens so weit vorne wie die Konkurrenz. Die Kombination aus beidem könnte also richtig gute Endkundenprodukte hervorbringen und damit eine echte Alternative zu iPhone oder Android sein – das finde ich hervorragend. Überhaupt finde ich jede Alternative zum restriktiven, paternalistischen Apple-Ökosystem erst einmal super.

Adzine: Vorherrschendes Thema ist der Durchmarsch der Smartphones, eine Kombination aus Mini-Computer und Handy. Wie beurteilen Sie die euphorische Wahrnehmung, gerade auch in Barcelona?

Räthke: Ich denke, dass professioneller Skeptizismus angebracht ist. Damit stehe ich auch nicht allein auf weiter Flur. Bei jedem, der sich in dieser Branche auskennt, halten sich Enthusiasmus und Skeptizismus zumindest die Waage.

Adzine: Warum? Hat die Wirtschaftskrise von vor zwei Jahren die Branche noch immer fest im Griff? Schließlich gibt’s doch das iPhone, Android-Handys und einen stetig wachsenden Smartphone-Markt.

Räthke: Mit der Wirtschaftskrise hat das weniger zu tun, sondern mit dem Technologie-Markt, in dem wir uns bewegen. Im mobilen Internet waren die letzen acht Jahre ein permanentes Hinterherrennen von viel zu optimistischen Prognosen. Der Klassiker lautet alle Jahre wieder, dass „nächstes Jahr der große Durchbruch ist“.

Adzine: Aber einen Durchbruch hat es mit den Smartphones gegeben, oder? Im letzten Jahr wurden 1,6 Milliarden Stück verkauft. Somit ein Drittel mehr als 2009.

Räthke: Sicher. Dabei darf man nicht vergessen, dass das iPhone vor drei Jahren und Googles Android vor eineinhalb Jahren auf den Markt kamen, das ist eine sehr schnelle Entwicklung. Davor, in den Jahren 2006 und 2007, hatten wir eine große Depression. Der Klingeltonmarkt – sowieso eine Schande – war komplett eingebrochen. Das ganze Thema Contentvertrieb, mit dem Handy Geld zu verdienen, war schon vorher mäßig und ging dann noch weiter zurück. Die unübersichtlichen Tarife, die Geschäftsverhinderungspolitik der Operators … Es waren unbefriedigende Zeiten, aus denen mir ein solider Skeptizismus geblieben ist.
Das betrifft auch die heutige Marktsituation. Jenseits von iPhone und Android haben 50 Prozent der Nutzer in Deutschland Prepaid-Karten. Und diese 50 Prozent werden schlichtweg vergessen. Nicht besprochen und auch nicht angesprochen; man tut so, als gäbe es diese große Nutzerzahl nicht. Da macht der Mobile World Congress keine Ausnahme.

Adzine: Dieses Phänomen gab es bereits, als die ersten DSL-Verbindungen auf den Markt kamen, sämtliche Medienhäuser Flash-Seiten haben wollten und vergaßen, dass 80 Prozent gar kein ISDN hatten. Das Problem ist nunmehr Geschichte.

Räthke: Als studierter Historiker kann ich sagen, dass wir im mobilen Internet die Geschichte noch vor uns haben. Noch haben wir eine zweigeteilte Nutzung im Bereich Handy. Fünf bis zehn Prozent nutzen das Internet intensiv. Das sind die bekannten computeraffinen Zielgruppen, die oftmals einen guten bis sehr guten Verdienst haben, eine überdurchschnittliche Ausbildung. Doch 90 Prozent nutzen das mobile Internet überhaupt nicht, die wollen nur telefonieren. Brauchen dafür auch kein neues Handy, der alte Nokia-Knochen tut es auch noch. Oder sie sind einfach kostenbewusst.

Adzine: Kostenbewusstsein ist doch keine schlechte Tugend?

Räthke: Natürlich nicht. Wer heute als Vorstandsvorsitzender vor der Frage steht, in den Bereich mobiles Internet zu investieren – oder wer ein großes Werbebudget zu verantworten hat –, muss sich die Frage stellen, wen er mit diesem Geld erreichen will, namentlich, wenn es darum geht, eine Marke bekannt zu machen oder in den Massenmarkt einzudringen. Hierbei geht es nicht um die Frage, ob jemand konservativ ist, sondern wie vernünftig ein Budget verantwortet wird.

Adzine: Heißt das, dass unerfahrene Unternehmen lieber die Finger davon lassen sollten?

Räthke: Nein, überhaupt nicht! Man sollte nur nüchtern mit den Fragen und deren Beantwortung umgehen. Der Mobile-Kanal kann für einige Werbetreibende sehr viel erreichen, für andere aber halt nur wenig. – Wir leben ja in einer kleinen, sehr optimistischen Community. Ich halte es für wichtig, sich trotzdem nicht in die eigene Tasche zu lügen. Wer in Werbung im mobilen Internet investiert, muss wissen, dass noch nicht die großen Reichweiten erzielt werden und dass es dauern wird, bis sich die Investition auszahlt. Es sei denn, man möchte eine mobileaffine Zielgruppe erreichen und entwickelt eine kluge, originelle Art, das zu tun.

Adzine: Herr Räthke, Sie haben es bereits erwähnt: Von Haus aus sind sie studierter Historiker. Wie sind Sie zum mobilen Internet gekommen?

Räthke: Meine erste Berührung mit digitalen Medien habe ich nach dem Studium in Berlin bei Pixelpark
gemacht. 2000 gründete ich, wie viele andere auch, ein Start-up, welches nicht lange überlebt hat. So ging ich 2002 zu T-Motion, später T-Mobile, nach Bonn und London, und habe mich auf mobiles Internet spezialisiert.

Adzine: Das war der Anfang 2002?

Räthke: Ja, nächstes Jahr können wir zehn Jahre Mobile Internet feiern! Und damit auch den von Games und Applications. 2002 kam das erste Java-Handy auf den Markt, das erste Foto-Handy und das erste Farbdisplay. Zu jedem dieser technischen Produkte mussten Services und Endprodukte entwickelt werden. Und an T-Motion ist damals niemand wirklich vorbeigekommen. Viele Leute, die in meiner Branche arbeiten, kenne ich noch aus dieser Zeit. Denn die meisten waren irgendwann auch einmal in Bonn … in meinem Büro.

Adzine: Auch Bonn ist Geschichte, zumindest was Ihre Festanstellung betrifft. Seit wann sind Sie als Berater und Interimsmanager unterwegs? Wann haben Sie den Mobile Monday Berlin aus der Taufe gehoben?

Räthke: 2006 habe ich mich selbstständig gemacht und zwei Jahre später den Mobile Monday Berlin mitgegründet. Wie meine Kollegen in den anderen Mobile-Monday-Städten arbeite auch ich vollkommen pro bono für diesen Event, der vier Mal im Jahr in den jeweiligen Städten stattfindet.

Adzine: Wie sieht es mit den Mobile-Monday-Themen aus? Verfolgen Sie eine bestimmte Strategie?

Räthke: Wir haben im letzten Jahr angefangen, von klassischen Themen mit Produkt- und Firmenpräsentationen abzuweichen, und entwickeln uns in Richtung Mobile TED. Damit wollen wir unsere Veranstaltung aufbrechen und Themen, die im weitesten Sinne mit Mobilität zu tun haben, reinholen. Wissenschaft, Design und Kunst stehen nicht mehr außen vor, wir vernetzen das immer mehr.

Adzine: Werden auch kritische Themen auf den Mobile Mondays diskutiert? Zum Beispiel Abofallen? Wenn das so weitergeht, werden die Nutzer überhaupt nicht mehr auf ein Werbebanner am mobilen Gerät klicken. Verdirbt sich die Branche nicht selbst damit das Werbegeschäft der Zukunft, das Mobile Display Advertising auf Smartphones und Tablet-Geräten?

Räthke: Der MoMo ist keine Werbeveranstaltung – wer nur da ist, um sein Thema schönzureden, ist falsch. Unlautere Praktiken werden von niemandem entschuldigt. Ganz im Gegenteil: Weil hier alle auf Augenhöhe reden, ist die MoMo-Community der Ort, wo man seinen Ruf sehr schnell verlieren kann, wenn man sich nicht an Gesetz und gesunden Menschenverstand hält. Solche Fälle sind aber selten, weil seit zwei, drei Jahren die Werbereichweiten und mobilen Erlösmodelle auch tatsächlich da ankommen, wo sie immer versprachen, zu sein. Man muss heute Werbepartnern nichts mehr vom „Investment in die Zukunft“ vorschwindeln, um ein Budget loszueisen. Man kann ehrlich über Potenzial und Limitation von mobiler Werbung reden, genau wie bei Online oder TV, und ebenso ehrlich Missbräuche brandmarken.

Adzine: Was nehmen Sie an Eindrücken aus Barcelona mit? Und findet das vielleicht schon seinen Niederschlag zum nächsten Mobile Monday am 7. März in der „HomeBase Lounge Berlin“?

Räthke: Ich treffe mich noch mit einem potenziellen Redner für den 7. März, der hier in Spanien viel aufgebaut hat. Aber abgesehen davon versuchen wir mit dem Berliner MoMo, unabhängig von einzelnen Events und Produktlaunches, die „Geschichte hinter den Geschichten“ zu erzählen. Der nächste MoMo wird von der Inspiration hinter der Mobile-Service-Entwicklung handeln, von Input aus der Medienkunst, dem neuen Umgang mit alten Inhalten. Also von dem, was auch viele auf dem MWC befeuert!

Adzine: Dann wünschen wir noch viel Erfolg auf dem Mobile World Congress, einen fröhlichen Skeptizismus und spannende Diskussionen auf den MoMos.

Bild Sandra Goetz Über den Autor/die Autorin:

Sandra Goetz ist seit 2006 als freie Autorin für ADZINE an Bord. Ihr Fokus liegt auf Interviews zu aktuellen Innovationsthemen im digital Media und Marketing. Außerdem schaut sie sich bei ihren Auslandsreisen immer wieder nach spannenden Geschichten aus der globalen Marketing-Welt um, Interviews inklusive. Seit 2016 verantwortet Sandra die ADZINE Entscheider-Serie.

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