Viele mögen sich noch an die scheinbar willkürliche Tanzeinlage Hunderter Passanten in der Londoner Liverpool Street Station erinnern. Diesen britischen T-Mobile Dance Spot haben allein auf YouTube 12 Mio. Zuschauer abgerufen und er brachte den Agenturen Saachti&Saachti und Mediacom einen silbernen Löwen bei den Cannes Lions 2009 ein. Adzine sprach zwischen den Drehs für zwei neue virale Kampagnen mit Martin Dräger, dem Geschäftsführer der DSG (Dialog Solutions GmbH), der mit seinem Team unter anderem für Kunden wie mobilcom-debitel und Olympus arbeitet.
Herr Dräger, seit Anfang 2003 beschäftigen Sie sich mit den Strategien, Mechanismen und Messinstrumenten für virale Kampagnen, Sie können uns bestimmt weiterhelfen:* Liest man den einen oder anderen Artikel in der Fachpresse werden oft Word-of-Mouth und virales Marketing in einen Topf geworfen. Was ist der Unterschied zwischen viralem Marketing und dem Word-of-Mouth?*
Martin Dräger: Das ist eine Frage der Definition. Word of Mouth empfinde ich mehr als Überbegriff für die Stimuli von Gesprächen, die den Absatz von Marken und Produkten fördern. Darunter fallen zahlreiche Möglichkeiten, um das Empfehlungspotenzial von Produkten oder Marken zu verstärken. Zum Beispiel Produkt Sampling, Crowd Sourcing oder eben virales Marketing, was man bislang in Deutschland noch reduziert auf virale Werbung.
Dank Breitbandanbindung ist das Bewegtbild im Internet immer mehr im Kommen, schlägt nun die Stunde der Viralspots? Welche Internetumfelder gelten als besonders dynamisch, sind also für die Weitergabe durch den User besonders gut geeignet?
Martin Dräger: Nun, grundsätzlich gilt hier eine vollkommen andere Ausgangslage als in vertrauten Verbreitungsmedien wie bspw. TV oder Radio. Das Internet ist aus unserer Sicht auch kein Mediakanal. In unseren Kampagnen ist der Mediakanal der Internetnutzer selber, der darüber entscheidet, wie relevant ein Inhalt für ihn ist und für wie empfehlenswert er diesen hält. Die konventionelle Platzierung von Spots, aber auch Pop-ups oder Bannern auf viel frequentierten Websites trifft diese Relevanz nur sehr bedingt.
Ebenso hat sich gezeigt, dass es kaum sogenannte Superspreader in Personenform gibt, also solche Menschen, die generell als allgemeine Verbreiter fungieren und dabei hoch frequentierte Blogs oder mehrere Hunderte soziale Kontakte persönlich pflegen. Für Bewegtbild wie für andere Empfehlungsformate gilt: Sie müssen über die Bande in thematischen Netzwerken gedacht sein, ein gemeinsames Interesse stärken und addieren sich über Knotenpunkte. Zum Beispiel gibt es nicht unbedingt Menschen, die sich für Lippenstift gleichermaßen interessieren, wie etwa für MP3 Player. Bewegtbilder können sie aber sehr eindrucksvoll und leicht erreichen heute.
Beim Word-of-Mouth sucht man Multiplikatoren, die dann Empfehlungen weitergeben. Wie ist das bei viralen Kampagnen? Sucht man sich zu Beginn ganz spezielle „Wirte“ für den Viralspot aus oder nutzt man einfach nur die kostenlosen Video-Portale?
Martin Dräger: Die kostenlosen Videoportale können als Ausgangspunkt dienen, aber sie ersetzen nicht das Seeding der Videos. Das Seeding beschreibt man auch als strategische Erstplatzierung von Videos. Hierfür werden geeignete Plätze im Netz identifiziert, die eine konventionelle Medialeistung ersetzen. Dabei gibt es aber keine Schaltungen, die über einen bestimmten Zeitraum eingebucht werden, sondern wir spüren Multiplikatoren und Umgebungen auf, die relevante Inhalte aufnehmen und so die Verbreitung der ersten Generation leisten.
Martin Dräger: Die Planung für Konzeption und Kreation erfolgt ähnlich wie bei klassischen Spots, allerdings ist es hilfreich und wichtig, bereits zuvor etwas zum Stimmungsbild und den Gesprächen über die Marke/das Produkt zu wissen. Hierzu setzen wir im Vorfeld oftmals ein Social-Network-Monitoring ein. Die Monitorings funktionieren als ein Zuhören und eine Analyse der Gespräche online und dienen dazu, die Kampagne inhaltlich perfekt anzusetzen und zu planen. Sie können dabei Impulse bis zur allgemeinen Produktkommunikation geben. Zum einen identifizieren wir Themen, über die vernetzte Konsumenten bereits sprechen, die sie bewegen. Zum anderen schauen wir, wo über die zu bewerbenden Produkte gesprochen wird und wer das tut. Daraus leiten wir dann gemeinsam mit dem Kunden unser weiteres Vorgehen ab.
Welche Komponenten sind für den Erfolg eines viralen Clips entscheidend? Ist man nicht immer auch auf Kollege Zufall/Zeitgeist angewiesen?
Martin Dräger: Durchaus. Niemand kann absolut vorhersagen, was den Erfolg eines Virals ausmachen wird. Das ultimative Erfolgsrezept zu besitzen, ist kaum möglich und die Behauptung unseriös. Es gibt auch unterschiedliche Theorien, die konzeptionell wunderbar klingen, aber in der Praxis wenig Bedeutung haben. Viel wichtiger ist es, Konsumenten zuzuhören und bereits bestehende virale Muster abzuleiten für die geplante Kampagne, was durchaus funktioniert.
Wie werden virale Videos meist in eine Kampagne eingegliedert? Sind sie immer nur ein Teil einer Kampagne, vielleicht nur der Beginn oder ist so ein viraler Spot meist für sich schon die Kampagne?
Martin Dräger: Alle Möglichkeiten sind denkbar, die kluge Integration bietet jedoch erfahrungsgemäß den größten Erfolg. Die Art der Integration hängt stark von den damit verbundenen Zielen ab. Ein viraler Spot kann in Kampagnenpausen crossmediale Verstärkung und Erweiterung bedeuten, aber auch den Lead haben, z.B. bei Gerüchten. Oder er kann in zwei Medien wirken: Momentan produzieren wir z.B. einen Viral, der fürs Internet gemacht ist, jedoch in einer gekürzten Version auch im TV geschaltet wird.
Aus der Emotionsforschung wissen wir. Ohne Emotionen finden beim Menschen keine Handlungen beziehungsweise Entscheidungen statt. Nun hat aber ihre DSG-Studie mit dem Brand Science Institute Hamburg ergeben, dass Angst und Zorn, aber auch Mitgefühl und Liebe die Haupttreiber für die Involviertheit von Usern zur Verbreitung von Videos sind. Bei diesem Ergebnis Ihrer Studie: Wären dann Schadenfreude und Hass nicht zumindest genauso geeignete Emotionen, die man ansprechen sollte?
Martin Dräger: Ein Erklärungsversuch lautet, dass Humor eine sehr individuelle Sache ist. Oftmals hört man Witze, die man überhaupt nicht witzig findet. Anders bei negativen Emotionen, sie schaffen leichter einen Konsens und man neigt dazu, sich darüber auszutauschen. Beispielsweise werden Gefühle wie Angst besser abgebaut und Unsicherheit reduziert im Austausch mit anderen. So versucht man auch, bei unklaren Sachverhalten Gewissheit zu erlangen, um innere Spannungsfelder aufzulösen.
Ist das nicht ein ärgerliches Ergebnis? Schließlich wollen ja die Marken meistens ja gerade nicht mit negativen Gefühlen in Verbindung gebracht werden?
Martin Dräger: Raten wir Marketern, jetzt nur noch Angst und Zorn pur zu schüren? Auf keinen Fall! Hier muss übersetzt werden: Die negativen Gefühle, die wir teilen wollen, können in einer Kampagnenmechanik so gestaltet sein, dass sie mit einem positiven Vorzeichen enden. Außerdem ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass die Geschichte einer Kampagne nicht in einem 1:1-Verhältnis auf das Produkt abstrahlt, sondern z.B. in ein kontrastives Verhältnis dazu gesetzt werden kann. Die Studie zeigt wissenschaftliche Ergebnisse, also nüchtern durchgeführte Emotionsforschung und liefert Einblicke in Zusammenhänge, aber nicht die Gebrauchsanleitung für erfolgreiche Virals.
Kommt es bei so einem viralen Clip dann nur noch auf Emotionen an und nicht auf das Produkt und die Marke. Ist es gar kontraproduktiv, die Aufmerksamkeit auf ein Produkt und die Marke des Werbetreibenden zu richten?
Martin Dräger: Das wäre höchst bedauerlich, wenn die emotionale Aufmerksamkeit nicht auf das Produkt und die Marke zurückführt oder ganz direkt durch sie entsteht. Schließlich sollen virale Videos dem Marketing dienen. Wichtig ist es, Emotionen aus relevanten Themen um die Marke oder das Produkt zu gewinnen und zu kommunizieren.
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Gibt es eine kritische Masse, die erreicht werden muss, damit der Spot sich verbreitet. Und ab wann weiß der Werbekunde, dass es der virale Spot nicht schaffen wird? Kann man das überhaupt sagen, vielleicht kann man ja einen „Blindgänger“ bei Bedarf reaktivieren, ist so etwas schon vorgekommen?
Martin Dräger: Das liegt immer an den Erwartungen. Wir gewährleisten über unsere Seedingleistungen mindestens 150.000 aktive Views, die ausreichen, um eine Verbreitung über ’digitale’ Mundpropaganda zu initiieren. Wenn virale Videos deutlich hinter den Erwartungen zurückbleiben, ist ein Viral einfach nicht viral, sondern z.B. eine klassische Botschaft. Auch die Platzierung nach falschen Netzwerktheorien kann ihn zu schnell verenden lassen.
Wie misst man eigentlich den Erfolg, was sind die wichtigsten Kennzahlen?
Martin Dräger: Für viele Werbetreibende sind die Views und die Responseraten die maßgebliche Kennzahl. Diese Kennzahlen orientieren sich sehr an klassischen Kenngrößen. Mittlerweile entwickelt sich aber die Kennzahl der Interaktion. Darunter fallen nicht nur die Views, sondern auch die Verlinkungen, die Kommentare und z.B. Bewertungen. Wir denken, dass die Involvierung von Menschen im Mittelpunkt steht, also die aktive Auseinandersetzung mit einem Inhalt, und damit der Return of Involvement statt der Return of Investment, der auch in klassischer Werbung nur bedingt nachvollziehbar ist. In unseren Augen muss eine mehrdimensionale Betrachtung erfolgen, was derzeit auch langsam angenommen wird.
Vielen Dank für das Gespräch!