Immer öfter zieht es allabendlich moderne Couch-Potatoes vom langweiligen Fernsehprogramm vor den Computer. Sie stehen auf YouTube, Rückwärtsauktionen oder wollen einfach ein wenig in virtuellen Realitäten rumballern, statt im Wohnzimmer bei der Musikantenscheune mitzuschunkeln. Bekommen wir eine Primetime 2.0 im Internet? Und was haben Marketer davon?
Eigentlich gilt sie als eine der größten Errungenschaften, die das Internet hervorgebracht hat, - die Abschaffung der Primetime. Unabhängig von Raum und Zeit können Nachrichten, Bilder und Unterhaltung online konsumiert werden. Niemand muss seinen Videorekorder programmieren, um DSDS zu sehn. Wer seinen Superstar verpasst hat, schaut sich den Clip später im Internet an. Vieles funktioniert in der digitalen Welt auf Abruf. Doch leider ist nicht das ganze Leben on-demand: Schlafen, frühstücken, zur Arbeit fahren, in Meetings sitzen, arbeiten, noch ein paar Meetings aussitzen, heimfahren, Freunde treffen, einkaufen, essen, viel telefonieren, schlafen. Der Rhythmus des Lebens im 21. Jahrhundert lässt für die meisten Menschen nur kleine Zeitfenster für (digitale) Unterhaltung zu. Hartnäckig hält sich die Annahme, Unterhaltung und Informationen könne man auch nebenbei konsumieren. Doch die Realität läuft oft in geordneten Bahnen.
Video-Snack statt Betriebskantine
Ein bei Büroangestellten sehr beliebtes Zeitfenster ist beispielsweise die Mittagspause. So berichtete die New York Times kürzlich, dass in den USA in vielen Büros zur Mittagszeit gern die Akten, Tabellen und Präsentationen zur Seite gelegt werden, um Nachrichten auf CNN.com oder lustige Videos auf YouTube zu schauen. Man hat dem Phänomen auch gleich einen Namen verpasst: "video snacking".
Viele Leute zieht es ins Internet, weil sie Hunger auf Wissen und Entertainment haben. Sie wollen dabei interagieren oder wünschen sich einfach nur eine größere Auswahl an Unterhaltungs- und Informationsangeboten als im TV. Aber nur wenige wollen deshalb gleich ihren gewohnten Tagesablauf komplett umkrempeln. Sie gehen dann online, wenn es ihre Zeit erlaubt. Bei den meisten Menschen ist dies nach Feierabend der Fall - oder bei Berufstätigen in der großen Mittagspause.
US-Marktforscher von Nielsen haben das sogar untersucht. Und sie meinen, dass es für Videoinhalte im Internet eine neue Primetime gibt. Die ist auf Websites amerikanischer Fernsehsender zwischen 12 und 14 Uhr, auf von Verbrauchern generierten Medienseiten hingegen nachts, zwischen 23 und 6 Uhr. Der Peak zur Mittagszeit lässt sich sicher auf die Büroangestellten zurückführen, die Nachtstunden gehören dann den amerikanischen Musikantenscheune-Verweigerern.
Und was soll das kosten?
Wäre es nun nicht verlockend, mit dem Begriff Primetime zahlungskräftige TV-Kunden zu umgarnen? Hier Analogien zu schaffen, um dicke Werbebudgets geschickt ins Medium Online zu shiften? So mancher stellt sich bereits die Frage, ob sich diese Nutzungsspitzen im Web nicht auch in den Preisen für die Online-Werbung niederschlagen könnten oder sogar müssten.
"Nein", meint Norbert Kann, Partner Manager der Ad2Net GmbH. "Online-Marketing orientiert sich am Nutzer, weniger an Inhalt und Zeit - egal ob es sich um Reichweiten oder um eine klar definierte Zielgruppe handelt. So lassen sich beispielsweise durch Targeting-Möglichkeiten Zielgruppen gezielt erreichen und dabei das individuelle Nutzungsverhalten berücksichtigen. Ein tageszeitenabhängiger TKP würde dem Online-Marketing genau diese Vorteile absprechen", meint Kann.
Ad2Net vermarktet unter anderem auch das Web-TV Ehrensenf. Aber eine plattformabhängige Primetime sieht Kann nicht. Das ist schon allein in der internationalen Erreichbarkeit vieler Angebote begründet, die zeitzonenübergreifend ist. Youtube wird zum Beispiel als Informations- und Unterhaltungsplattform weltweit genutzt, deshalb verteilen sich die gesamten Zugriffe auf die Plattform relativ ausgeglichen über den ganzen Tag. "Das Gleiche gilt für die Inhalte, die auch 24/7 verfügbar sind. Aber fasst man einzelne lokale Nutzergruppen zusammen, lässt sich für sie sicherlich eine Art Primetime definieren", sagt Kann. Arbeitnehmer würden vermehrt in der Mittagspause oder Schüler nach der Schule konsumieren. "Insgesamt lässt sich sagen, dass das Mediennutzungsverhalten im Internet nicht mehr durch die Linearität der klassischen Medien geprägt ist, sondern sich an das Freizeitverhalten des einzelnen anpasst", ist Kann überzeugt.
Viele Peaks, ein TKP
Auch Christoph Schuh, Vorstand Marketing und Vertrieb bei Tomorrow Focus kann eine digitale Primetime in seinem Vermarktungsportfolio pauschal nicht erkennen. Allerdings haben die Plattformen spezifische Nutzungspeaks. Focus Online hat einen hohen Anteil an Nutzern, die während der Bürozeit surfen. "Hier kann man deutliche Peaks in der Mittagszeit von 12 bis 13 Uhr feststellen, aber auch höhere Abrufzahlen gegen Feierabend", erläutert Schuh. TVSpielfilm Online hingegen habe deutliche Peaks am Samstag und Sonntag - dann, wenn User sich gezielt ihr Fernsehprogramm für das Wochenende suchen.
Im Portfolio von SevenOne Interactive sind ebenfalls charakteristische Nutzungsspitzen zu beobachten - allerdings sind diese von Portal zu Portal sehr verschieden. Das Nachrichtenportal N24.de wird zum Beispiel vor allem am späten Vormittag bis zum frühen Mittag besonders intensiv genutzt. Bei Communities wie MyVideo und Lokalisten ist die Nutzung am frühen Abend zwischen 17 und 20 Uhr am größten. Und das Wetterportal wetter.com wird vor allem morgens genutzt, höchster Peak ist hier zwischen 7 und 8 Uhr. Aber von einem uhrzeitabhängigen Tausender Kontaktpreis (TKP) hält auch Matthias Falkenberg, Geschäftsführer SevenOne Interactive, nichts. "Anders als im TV wird bei Werbung im Internet ex-post auf TKP-Basis abgerechnet. Das heißt: Der Werbekunde zahlt jeweils für tausend tatsächlich erreichte Kontakte - es spielt also keine Rolle, zu welcher Uhrzeit etwa ein Video-Ad ausgeliefert wird. Den TKP auf zeitliche Kriterien abzustimmen, macht aus meiner Sicht deshalb keinen Sinn", sagt Falkenberg.
Most wanted: Primetime für Kontaktqualität
Online-Vermarkter unterscheiden die Höhe der TKP in der Regel anhand der Qualität der Inhalte und der erreichbaren Zielgruppen. "Wann die User auf die Plattform surfen, ist bei dieser Betrachtung weniger relevant", meint auch Schuh. Viele Vermarkter bieten jedoch ein Tageszeit-Targeting an - manche mit, manche ohne Aufschlag. Doch in der Mediaplanung spielt es eine untergeordnete Rolle.
Auch die Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung, die mit ihren internet facts eine Planungsgrundlage stellt, weist weder Tageszeiten noch Nutzungsdauer aus. Letztere wird von vielen zumindest als Indiz für eine intensive Nutzung gesehen. Doch wer will schon wissen, ob sich der Nutzer mit der Seite auseinandersetzt oder gerade abgelenkt ist - und beispielsweise telefoniert? Werbungtreibende und Vermarkter vertrauen daher lieber auf die technische Aussteuerung der Werbung. In der Planung der Markenartikler-Budgets wird in der Regel, technisch intelligent, über Frequency Cap und Kontaktklassen gesteuert, um eine optimale Werbewirkung in der relevanten Zielgruppe zu erzeugen. "Ein interessanter Ansatz wäre es zu messen, ob es eine Primetime für Kontaktqualität gibt. Um den Preisaufschlag zu rechtfertigen, müsste man messen, ob es Surfzeiten gibt, in denen sich der User länger auf einzelnen Seiten aufhält und sich intensiver mit den Werbemitteln auseinandersetzt, bei steigenden Responsewerten", erläutert Schuh.
Doch diese Verweildauer in Kombination mit den Responsewerten zu messen, wäre sicher mühselig. Auch ob die Surfer beispielsweise zur Mittagspause aufnahmefähiger sind als nach oder während der Arbeit, ist zu diesem Zeitpunkt noch reine Spekulation. "Hier müsste erst Grundlagenforschung betrieben werden, um Klarheit zu schaffen", so Falkenberg. Vielleicht würde eine solche Forschung sogar das zutage fördern, was sich jeder Marketer wünscht: Eine ultimative Internet Primetime, in der Nutzer besonders aufmerksam, entspannt und aktionsfreudig auf Online-Werbung reagieren.
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