Für Wirbel sorgte kürzlich das amerikanische Marktforschungsinstitut Comscore. Das US-Unternehmen hatte Ende Mai erstmals einen Reichweitenreport für deutsche Websites vorgestellt. So mancher Internet-Interessierte rieb sich daraufhin verwundert die Augen, dass in den Reichweiten-Top Ten plötzlich ganz andere Seiten gelistet waren, als üblicherweise in den Erhebungen der hiesigen Arbeitsgemeinschaft Onlineforschung (AGOF) ausgewiesen werden. Selbst in der Fachpresse war vereinzelt zu lesen, dass die internet facts der AGOF nun wohl neue Konkurrenz bekommen würden. Leider hat das eine mit dem anderen nicht viel zu tun. Dieser Sturm im Wasserglas hat gezeigt: Es gibt grobe Missverständnisse. Und davon reichlich.
"Comscore ist für uns kein Wettbewerber. Das gilt auch für Nielsen Netratings", stellt René Lamsfuß, Vorstandsvorsitzender der AGOF klar. "Wenn die Daten dieser Marktforscher eine geeignete Grundlage für die Mediaplanung hierzulande gewesen wären, hätten wir vor fünf Jahren nicht so viel Arbeit, Zeit und Energie dafür aufgebracht, die internet facts auf den Weg zu bringen." Ein Unterschied wird schon in der Ausgangslage deutlich. Die Researcher sind marktwirtschaftlich agierende Unternehmen. "Wir sind kein Marktforschungsinstitut und wir wollen mit unseren Erhebungen keine Marktforschungsumsätze erzielen. Die AGOF ist ein eingetragener Verein, unterliegt entsprechenden Spielregeln und handelt im Auftrag ihrer Mitglieder", erläutert Lamsfuß.
Ähnliche Ansätze gibt es in Österreich und der Schweiz. Die Österreicher haben das AGOF-Modell in einer leicht veränderten Version adaptiert. Sie haben es anders strukturiert und dem kleineren Werbemarkt angepasst. Auch die Holländer, Belgier und Polen haben eine Lösung gefunden, bei der eine Organisation und kein Unternehmen die planungsrelevanten Online-Reichweiten zur Verfügung stellt. In Großbritannien, Frankreich und Spanien wird hingegen stark mit Netratings und Comescore gearbeitet.
Drei-Säulen-Modell
Aber im Gegensatz zu den Panelmessungen von Comscore und Nielsen Netratings ermittelt die AGOF ihre Daten mit einem Drei-Säulen-Modell. Das besteht aus einer elektronischen Messung der Nutzung, einer Onsite-Befragung der User und einer bevölkerungsrepräsentativen Telefonbefragung. Bei der rein technischen Messung werden Größen wie Visits und Page Impressions erhoben. Das geschieht auf Basis jedes einzelnen Rechners, dessen Internetnutzung gemessen wird. Diese Rechner werden als Unique Clients bezeichnet. Der wichtigste Part im Modell ist die Umwandlung dieser Unique Clients in Unique User, also in die Nutzer hinter den Rechnern. Dazu wird zwischen Single Usern, Multi Usern und Multi Clients unterschieden. Denn nur bei einem Single User ist ein Unique Client automatisch ein Unique User, also dann, wenn der Rechner nur von einer Person genutzt wird, die keinen anderen Internetzugang nutzt.
Die Daten der technischen Messung werden mit den On-Site-Befragungen angereichert. Von den Nutzern, von denen sowohl Daten aus der technischen Messung als auch Daten aus der Online-Befragung vorliegen, werden idealtypische Nutzerprofile erstellt. In einem Profiling-Datamining-Verfahren werden mit Hilfe dieser idealtypischen Nutzerprofile nach Ähnlichkeitsprinzip unvollständige Profile angereichert. Auf diese Weise werden fehlende soziodemografische Daten ergänzt und vollständige Nutzerprofile generiert (Modelling). Damit wurden die Unique Clients in Unique User umgewandelt. Um diese Informationen auf die deutsche Internetnutzerschaft ab 14 Jahren übertragen zu können, wird eine repräsentative Telefonbefragung durchgeführt und mit den Daten aus der technischen Messung fusioniert.
"Mit einem Panel hingegen lassen sich bestimmte Nutzereigenschaften nicht abbilden", sagt Lamsfuß. So lasse sich die Internetnutzung am Arbeitsplatz in Deutschland aus rechtlichen Gründen auf diese Weise nur schwer bis gar nicht repräsentativ erheben. Weder die Nutzer noch das Unternehmen würden es zulassen, dass ihnen beim Surfen am Arbeitsplatz jemand im übertragenen Sinne über die Schulter schaut. Die AGOF fängt diese Onliner mit ihrem Drei-Säulen-Modell ein.
Werbefrei nicht AGOF relevant
Die Erhebungen von Nielsen Netratings oder Comscore können auch deshalb nicht mit den internet facts verglichen werden, weil die AGOF einen anderen Fokus hat. So bemängelten Kritiker, dass in den Comscore-Top Ten beispielsweise Google, Ebay und Wikipedia unter den Top Ten landeten, bei der AGOF aber nie auftauchen. Das Problem: Einige große Websites basieren auf anderen Businessmodellen. Denn eine Voraussetzung, um von der AGOF in die Studie einbezogen zu werden, ist beispielsweise, dass auf dem Angebot klassische Bannerwerbung geschaltet wird. "Das Geschäftsmodell von Google fußt nicht auf Displaywerbung und die AGOF plant ihrerseits zur Zeit nicht, Keyword-Advertising als Planungstool zur Verfügung zu stellen", sagt Lamsfuß.
Nicht-Werbeträger fallen bis dato automatisch durch das AGOF-Raster. Auch können daher bisher nur wenige Web 2.0-Angebote ausgewiesen werden. Schließlich ist eine Mediaplanung für werbefreie Websites eine ziemlich sinnfreie Beschäftigung. Allerdings gibt es auch technische Ausschlusskriterien: beispielsweise muss die Seite mit Cookies arbeiten und den Einbau eines Tags in den Seitenquellcode erlauben. Wer die Voraussetzungen erfüllt, kann eine AGOF-Lizenz beantragen, um bei der Erhebung dabei zu sein. Einen Anspruch, Reichweiten für das gesamte deutschsprachige Internet zu erheben, hat die AGOF nicht. Die Bedeutung der Reichweiten der teilnehmenden Angebote dürfte unbestritten sein, eine Mediaplanung, die auch die Nutzungsintensität berücksichtigt, hat sich bisher aber noch nicht durchgesetzt. Nielsen//Netratings ergänzt derzeit seine Erhebungsdaten, um die Gesamtverweildauer von Nutzern auf den jeweiligen Angeboten. Aber auch hierbei ist Vorsicht geboten. Beispielsweise permanent geöffnete Instant Messaging Dienste, die Portalen wie AOL oder MSN zugeordnet werden, können das Bild verzerren.
Die Verweildauer bekommt gerade bei der zunehmenden Einbindung von dynamischen Inhalten einen höheren Stellenwert, da Websites nicht neu geladen werden müssen. Auch die AGOF misst solche Daten bereits, weist sie aber nach eigenen Angaben mangels Nachfrage bisher nicht aus. Ihr Ziel ist es Mediaplanern eine umfassende Grundlage für ihre Arbeit zu liefern. Diese bekommen sie auch schon heute - wenn auch mit einer gewissen Verzögerung. Insbesondere bei neuen Angeboten könnte dies fatal sein - im schlimmsten Fall sind die Anbieter wieder verschwunden, bevor Zahlen bekannt gegeben werden. Wenn ein neues Angebot aufgenommen wird, dauert es in der Regel sechs Monate, bis erste Zahlen vorliegen. "Das ist natürlich unbefriedigend", sagt Lamsfuß. "Aber wir arbeiten mit Nachdruck daran und werden zeitnah Lösungen zur Verfügung stellen können."
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