Was das Marketing in zähen Konferenzen, auf abstrakten Flippcharts, in unzähligen Workshops und wochenlanger Kreativarbeit mühsam aufbaut, können Kunden mit ihrer Meinungsäußerung problemlos wieder einreißen. Wie sagte doch Chris Anderson, Chefredakteur des Wired Magazine und Autor von "The Long Tail", so treffend: "Ihre Marke ist das, was Google darüber sagt. Nicht das, was Sie sagen." Denn heutzutage gibt es unzählige Onliner, die tagein tagaus nichts lieber tun, als Videos ins Netz zu stellen, Produkte zu bewerten und sich über Marken auszutauschen. Wen interessiert im Web 2.0 das PR-Geschwafel. Droht dem Marketing der totale Kontrollverlust?
Nein, meint Ralf Heller, Geschäftsführer der Virtual Identity AG: "Das Web 2.0 führt nicht zu einem Kontrollverlust des Marketings. Es macht die längst bestehende Unkontrollierbarkeit der Produktkommunikation lediglich sichtbar." Viele Unternehmen hätten bisher geglaubt, die Kontrolle über die Marken-Kommunikation zu haben, indem sie versuchten, bestimmte Images und Meinungen in die Köpfe der Konsumenten zu transferieren. "Nun bekommen sie erstmals eine Abbildung des realen Markenbildes. Das hat nichts mit Kontrollverlust zu tun, sondern spiegelt lediglich die Wirklichkeit wider", so Heller.
Wie Konsumenten über Produkte denken, ist auf Meinungsportalen längst abrufbar - neuerdings sogar als Videobotschaft. Dabei dürfte für das Marketing vor allem interessant sein zu sehen, wie echte Kunden mit ihren Produkten umgehen und welche Schwierigkeiten in der Praxis auftreten. Fatal und peinlich wird es aber, wenn sich Mängel offenbaren oder Aussagen des Marketings in Wort und Bild ad absurdum geführt werden.
"Wenn die Produktqualität nicht das hält, was Werbung verspricht, wird der Kontrollverlust im Web 2.0 für alle sichtbar und via word-of-mouth weitergetragen. Leider ist diese Konsumenten-Kommunikation wirkungsvoller als die des Marketings, da sie glaubwürdiger ist", erklärt Heller.
Raketen-Cola und Klorollen-Schlüssel
Die Kunden sind sich dieser Macht zunehmend bewusst und können dabei gemein sein. Sehr gemein: Da hatte das Marketing lediglich verkündet, ihre Fahrradschlösser seien extrem sicher, und dann bewies ein gewiefter Zweifler, dass alles relativ ist - mit einem einfachen Stift knackte er es in Sekundenschnelle. Leider zeigte er dies nicht seinem besten Freund oder seiner Verlobten, sondern quasi der ganzen Welt - via Internet und Videobotschaft. Das war wirklich gemein. Und was machten die Online-User? Einige schüttelten verwundert den Kopf und wiesen Freunde und Bekannte auf das Video hin. Andere probierten es selbst aus und stellten eigene Videos online. Auch, dass ein Schloss - welches eigentlich zur Sicherung mobiler Hardware gedacht war - vor den Augen der Video-Gucker mit Hilfe einer Klorolle geknackt wird, hatte sich der Hersteller bei der Produktentwicklung sicher nicht träumen lassen. Gemein war auch, dass eine firmeninterne E-Mail von Jean-Remy von Matt an die Öffentlichkeit gelangte. Er hatte darin Blogs als Klowände im Internet bezeichnet. Die Blogger fanden das gar nicht lustig. Mittlerweile hat sich die Lage entspannt und wer "von Matt" bei Google in den Suchschlitz tippt, findet neben unzähligen Verweisen auf diesen Vorgang auch wieder einige Treffer zur Kreativagentur.
Da sind die Coca-Cola-Suchergebnisse auf Youtube schon weniger gemein. Wer hier Coca-Cola-Spots sucht, findet meist explodierende Flaschen und überschäumende Brause. Das ist das Ergebnis einer chemischen Reaktion, die dann eintritt, wenn Cola-Light mit Mentos-Drops gemischt wird. Aber dass es sich bei dem braunen Gebräu um kein stilles Mineralwasser und bei Mentos um kein homöopathisches Mittel handelt, ist ohnehin bekannt. Daher haben die Marken in diesem Fall keinen Schaden genommen. Im Gegenteil: Es ist ein regelrechter Wettbewerb auf dem Portal entbrannt, wessen Cola-Flasche dank Mentos-Power am schönsten sprudelt oder nach kräftigem Aufschlagen auf hartem Untergrund raketenmäßig am heftigsten durchstartet, am höchsten und weitesten fliegt. Es sind etwas andere Bilder als in den eher sterilen Coca-Cola-TV-Spots, aber fröhliche Menschen kommen in beiden vor. Nur anders, irgendwie authentischer sind die verwackelten und verpixelten.
User Generated Advertising statt Hochglanzbroschüre
"Die Konsumenten von morgen wird kaum noch interessieren, was Unternehmen oder professionelle Tester über Produkte sagen, sondern sie sind an den Erfahrungen anderer 'normaler' Nutzer interessiert. Und die finden sie im Internet reichlich", sagt Lars Rabe, Vice President Online-Marketing der Intershop Communications Online Marketing GmbH. Diese Glaubwürdigkeit der realen Kunden versuchen sich erste Unternehmen nun zunutze zu machen. So wurden bei einer LG-Kampagne jüngst aus Usern Werbungtreibende. "User Generated Advertising" heißt diese neue Spielart des Marketing. LG Mobile setzt zur Einführung eines neuen Mobiltelefons LG Chocolate White auf diese Werbeform. Dazu fand auf der Online-Video-Community Myvideo.de ein Video-Wettbewerb statt, der so genannte Black & White Video Contest. Für den konnten die User ein eigenes Schwarz-Weiß-Video produzieren und veröffentlichen, per Online-Voting stimmen die Nutzer über die besten Clips ab. Unter den Teilnehmern mit den am besten bewerteten Videos wurden LG Handys verlost.
Auch Casio setzt aktuell zur Markteinführung einer neuen Digitalkamera auf die Glaubwürdigkeit der eigenen Kundschaft: Im Rahmen einer Web-2.0-Kampagne sucht der Anbieter in einem Wettbewerb den besten Audio-Werbespot, der von den eigenen Internetnutzern produziert wird. Man hat die Online-Gemeinde einer eigenen Web 2.0- Kampagnenwebsite kurzerhand dazu aufgerufen, sendefähige, maximal 20-sekündige Audio-Werbespot zu erstellen. Das dürfte dann allen Beteiligten Freude bereiten. Das Marketing kann sich entspannt zurücklehnen und die Kunden konsumieren die Werbung, die sie selbst produziert haben.
MyVideo hatte im Oktober diesen Jahres für Aufmerksamkeit gesorgt, als man Usern einen Werbe-Spot für das Videoportal produzieren ließ, der im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Einen Namen hat das Format ebenfalls: "User Generated Video Commercial". Die drei Macher des Werbefilms sind Mitglieder der Community MyVideo.de und haben den Spot angeblich aus purer Begeisterung für die Online-Plattform in Eigenregie produziert. Er lief auf Pro Sieben und Kabel Eins. Auch auf Ciao.de können User bereits Videos über Produkte einstellen und so ihre Meinung - nicht wie im Web 1.0 schriftlich - sondern nun in Bild und Ton abgeben. Künftig ist angedacht, auch Händlern die Möglichkeit zu geben, Produkte zu erläutern oder den eigenen Online-Shop im Video vorzustellen.
Nichts als die Wahrheit
"Für die Marketing-Kommunikation ist im Web 2.0-Zeitalter die Qualität der Produkte der zentrale Erfolgsfaktor. Wenn die Qualität stimmt, ist das eigene Marketing glaubwürdig und die Online-Community wird ebenfalls gut über diese Produkte berichten. Die Kommunikation wird in Zukunft zwangsläufig authentischer", so Heller.
Anders ließe sich der Dialog im Web nicht beeinflussen. Unternehmen sollten es vermeiden, beleidigt mit Gegendarstellungen oder gar mit Anwälten zu reagieren. "Die Folgen sind meist verheerender als die ursprünglichen Nachrichten. Wer eine Zensur versucht, wird kläglich scheitern", meint Heller. Stattdessen sollten Marketer die Reichweitenvorteile der eigenen Seiten nutzen, um diesen Dialog an sich zu binden. Tritt das Unternehmen auf seinen eigenen Internet-Seiten mit den Kunden in Kontakt, ist das nicht nur glaubwürdiger, sondern bietet auch die Chance, die Kundenwünsche besser zu verstehen. Denn längst geht es nicht mehr um Kontrollverlust, sondern um den Umgang damit. Seit es das Internet gibt, ist die schwindende Kontrolle des Marketings sichtbar. Von Ebay-Bewertungen über Amazon-Rezensionen bis hin zu Ciao-Erfahrungsberichten. Da die technologische Einstiegsbarriere auf Nutzerseite immer niedriger wird, um sich an Dialogen und Videoportalen zu beteiligen, wird der Kontrollverlust zunehmend deutlicher.
"Wer jetzt nicht den offenen Dialog sucht und den Servicegedanken lebt, wird es in der digitalen Welt der eng vernetzten Konsumenten sehr schwer haben", sagt Rabe. Doch deshalb müssen Marketer nicht den Kopf in den Sand stecken. Es bleibt die Hoffnung, dass bestimmte Botschaften von den Kunden verstanden, akzeptiert und weitergegeben werden. Denn wer Dialoge im Web verfolgt, wird feststellen, dass Konsumenten auch Argumente der Marketing-Kommunikation benutzen und gern weitergeben - vorausgesetzt sie sind wahr.
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