Das Geschäfts- und Einsteinjahr 2005 geht seinem Ende entgegen. Medienplaner haben längst ihr Augenmerk auf die Zukunft gerichtet. Ein ADZINE Redakteur wagt den visionären Versuch, schneller als knapp 300.000 m/s zu reisen, damit das Licht zu überholen und einen ganz normalen Tag im Jahre 2010 zu verbringen.
Eine Vision sei ein Traum mit einer Deadline. So wurde dem bekannten Unternehmensberater Professor Fredmund Malik der Visionsbegriff von einem Kollegen näher gebracht. Malik, selbst erklärter Gegner umtriebiger Visionäre auf Führungsebene, sieht dies mit nüchternem Realitätssinn und gibt zu bedenken: "Jeder Traum hat eine Deadline, spätestens dann, wenn der Wecker klingelt"
Morgens in Deutschland 2010
Mein Wecker ist eine zeitgesteuerte Starbucks Kaffeemaschine mit drahtloser Anbindung zum Kühlschrank vom Typ Miele Odysseus. Nachdem der Kaffee durchgelaufen ist, sollte mich eigentlich "California Dreaming" sanft in den Tag geleiten.
Stattdessen übertönt der Lärm eines Schaufelbaggers diesen alten Klassiker, der zeitgenau und leise aus kabellosen Mikrolautsprechern trällert. Eine interstellare Umgehungsstrasse? Weit gefehlt. Die Telekom verlegt ihr Glasfasernetz vor unserer Haustür. Liebe Leute, das ist 3 Jahre zu spät. Längst ist eine Wimax Antenne auf dem Dach installiert und ein anderer Provider als die Telekom speist die Daten in die letzte Internetmeile zum Haus. Aber ich gestehe, ich bin meiner Technikobsession längst erlegen und werde mir bald wie mein Nachbar, Herr Hövel, die 60-fache DSL-Geschwindigkeit via Glasfaser in die Küche holen.
Denn hier in der Küche steht ein Wunderwerk ostwestfälischer Ingenieurskunst mit japanischen Zutaten. Seinen mythologischen Namen hat der Kühlschrank aufgrund seiner vielschichtigen Funktionalität wirklich verdient. Neben schlichter Lebensmittelkühlung und dem Lebensmittelmanagement via RFID Scanner, nimmt dieser Kühlschrank eine zentrale Rolle im familiären Haushalt ein:
Der Odysseus ist unser digitales Tor zur Welt und gleichzeitig der Datenverteiler an alle häuslichen Endgeräte via Bluetooth/UWB (Ultra-Wide-Band) Technologie. Noch vor fünf Jahren hatte man versucht den Desktop PC mit aufwendigen Kühlsystemen zu versorgen, anstatt wie jetztdie hitzigen Multiprozessoren kurzer Hand in den Kühlschrank zu befördern, ihm eine Terabyte Festspeicher zu verpassen und an die Datenautobahn anzuschließen. Dank der Bluetooth/UWB Technologie ist es nämlich völlig uninteressant geworden, wo der zentrale Rechner im Hause steht.
Ich bitte Sie, natürlich haben die Konstrukteure in die Kühlschranktür einen Flachbildschirm mit Touchscreen integriert. Wie sollte meine Frau oder ich auch sonst den Einkaufskorb auf dem Miele-Karstadt Portal zusammenstellen? Einfach wunderbar, wenn der Kunde König ist. Nun erhalten wir immer die günstigsten Angebote für die Produkte, die der Kühlschrank nach einiger Zeit vermisst. Diese einseitige Bewerbung ist uns noch nicht einmal peinlich. Schließlich haben wir als Gegenleistung den Kühlschrank zu einem äußerst günstigen Vorzugspreis bei Karstadt erworben, damit nur dieses Unternehmen ihre Produkte am Kühlschrankdisplay bewerben darf. Im Übrigen werden die Happy Digits beim Einscannen der Lebensmittel in den Kühlschrank gleich mit dem Bonusguthaben verrechnet.
Im Haus kommunizieren alle Endgeräte nicht nur mit 12-facher DSL Geschwindigkeit untereinander, sondern auch mit den Hausbewohnern via Kommunikator am Handgelenk. Es riecht nach Kaffee. "Schirm an, Kanal 1" sage ich. Der Bildschirm, der im Ruhemodus die Tapete wiedergab ist nun aktiviert. "Kanal 7", sagt sie. "Sie" ist meine Frau Ilse und hat mal wieder einen anderen Geschmack. Ein zweiter Bildschirm teilt nun die sichtbare Fläche geschwisterlich auf. Wegen der unterschiedlichen Tonausgabe müsste ich jetzt meine 3-D Bluetooth Ohrknöpfe aufsetzen.
Das erspare ich mir, Zeit zu duschen. Im ersten Stock poltern schon unsere Kinder. Johanna lässt sich vorzugsweise vom KIKA-Radio wecken, Max vom Heavy Metal Kanal. Schließlich hat Starbucks.com viele Musikkanäle im Angebot. MTV war gestern. Die Verbindung Kaffee, Wecken, Radio, Musik musste einfach dieses Produkt hervorbringen. Wir haben den werbefreien Starbuckskanal mit 30 Gigabyte Begrenzung für den Vormittag gebucht.
Auf dem Weg zum Bad komme ich im Flur an einem digitalen Getty-Bilderrahmen vorbei. Ein Weihnachtsgeschenk meiner Frau. Im Moment bevorzuge ich Klassiker wie Michelangelos Sündenfall. Die paar Cents pro Bild im Monat sind es mir Wert, um die große Kunst nach Hause zu holen. Es gibt auch eine echte "Gettycastingszene", wo junge Künstler ihre Werke Online als Shareware zur Verfügung stellen.
Schnell noch die Zeitung lesen, bevor ich die Kinder in die Schule fahre. Ich nehme meine Frankfurter Allgemeine Onlinezeitung von der Ladestation. Auch im Jahre 2010 bevorzuge ich eine perpetuierte Nachrichtenausgabe. Ihr Material besteht aus einem Kunststoff-Zellulosegemisch. Es fühlt sich wie Papier an, ist etwas dicker, aber dennoch faltbar. Die Zeitung kennt mich: Sport ganz vorne auf der Titelseite, erst dann Politik, Wirtschaft und die Technologie-Neuigkeiten. Die Werbung in den kleinen flexiblen Kunststoff-Bildschirmen ließ ich blocken, dafür muss ich allerdings auch das Doppelte für das Abonnement hinblättern. Keine Zeit mehr, ich nehme das Blatt daher mit. Schließlich speisen Solarzellen die Zeitung mit Energie.
"Auf geht's Kinder, wir müssen los!" Johanna und Max haben ihren Schullaptop mit Brennstoffzelle schon unterm Arm. Mehr brauchen sie nicht. Ihr Betriebssystem ist "Ubuntu 9.10-smart vole", Open Source, ausgestattet mit einer Bibliothek von Wikipedia und der Online-Suchmaschine von Quaero. Der Alptraum der Werbebranche, da vollkommen werbegeblockt. Gut so, wir wollen doch keine amerikanischen Verhältnisse. Dort beherrscht Microsoft zusammen mit Google Print den digitalen Bildungsmarkt.
Ein Daumendruck und die Türen des Wagens öffnen sich. "Auto an" Display erwacht, Motor startet: "Guten morgen Jens" eine warme weibliche Stimme mit französischem Akzent empfängt mich. Die Stimme habe ich vor einiger Zeit bei sexystimme.de herunter geladen und ebenfalls auf den Festspeicher des Pkws übertragen. Ein echtes Schnäppchen, hat nur 90 Cents gekostet. Meine Frau regt sich ständig darüber auf. Dabei sollte sie sich mit ihrem Antonio Banderas Verschnitt nicht so weit aus dem Fenster lehnen.
"Zielort Schule" könnte ich meinem Galileo Navigationssystem sagen, wenn ich den Weg nicht wüsste. Den kenne ich aber. Stattdessen blinkt die Tankanzeige dezent, aber sichtbar warnend als Projektion an der Windschutzscheibe. Daher sage ich "Tanken". Prompt reagiert der Navigationsbildschirm und zeigt mir alle Tankstellen auf den Weg zur Schule. Das war aber auch Quatsch, schließlich will ich günstig tanken. Daher sage ich "Tanken billig" Nun erscheint die nächst gelegene Tankstelle mit dem heutigen Tiefstpreis. Einfach wunderbar, wenn das Auto Online ist. Neulich hab ich mich bei einer Fastfoodkette angemeldet, seitdem schicken sie mir auf den Befehl "Essen schnell" nicht nur den Standort ihrer nächsten Filiale, sondern auch ihre Tagesangebote. Übrigens, die Mautgebühr für die Fahrt zur Schule und zurück kann ich leider nicht steuerlich geltend machen.
Arbeit
Wie die meisten Freiberufler arbeite ich an meinem Großbildschirm von zu Hause aus. Der Chef vom Dienst ist sichtbar sauer, weil ich mal wieder die Deadline für meinen Artikel überschritten habe. An seinem Ausdruck in der Videomail erkenne ich deutlich seinen Unmut. Was soll ich machen, der Termin mit meinem Interviewpartner, ein bekannter Zukunftsforscher, ist erst heute. Ich rufe mittels Kommunikator ein Taxi. Im Haus wird günstig über das Internet telefoniert, außerhalb des Hauses mittels Satellitenübertragung. Beide Telefoniearten bewerkstelligt ein koreanischer Anbieter. Videotelefonie hat sich übrigens bisher nicht richtig durchgesetzt. Wir Menschen wollen bei der Annahme eines Anrufes nicht unbedingt gesehen werden.
Die Taxifahrt ist ein Werberitt, der die Fahrt noch nicht einmal billiger macht. Am Handschuhfach ist mal wieder ein Bildschirm angebracht. Während der Fahrt sind dort lautlose Videostreams zu betrachten. Veranstaltungen, Messen, Hotels, aber auch Kinofilme und Restaurants der Stadt werden hier beworben. Die Ampel ist rot. Ich sehe aus dem Fenster auf eine elektronische Litfasssäule. Diese 360 Grad Werbesäulen sind immer an frequentierten Kreuzungen mit langen Standzeiten aufgestellt. Nicht nur große Marken werben hier um die Gunst des Verbrauchers. Auch lokale Angebote von Einzelhändlern um die Ecke sind dort zu sehen. Da das Taxi steht, springt die mir sichtbare Seite der Litfasssäule von EBAY Werbung auf "Autohaus Müller, 50 m rechts abbiegen" um. Besonders beliebt sind auch Privatanzeigen, die der Anwender mittels Internet von zu Hause aus auf die Werbesäule gegen Gebühr schalten kann.
Am Treffpunkt angekommen, bezahle ich mit meinem guten Daumen und erhalte 2 Freikilometer. Treue zahlt sich auch beim Taxifahren aus. Leider habe ich mal wieder mein Bargeld vergessen, so dass der albanische Taxifahrer kein Trinkgeld erhält. Er schimpft wie ein Rohrspatz. Egal, ich verstehe eh kein Wort, die Übersetzungssoftware hat in den letzten fünf Jahren kaum Fortschritte gemacht.
In einem Restaurant nehme ich das Interview mit dem Zukunftsforscher in Bild und Ton mittels Kommunikator auf. Wir bestellen uns etwas über den am Tisch eingelassenen Touchscreen. "Heute im Angebot Seelachsfilet aus Kanada." Ich höre die freundliche Stimme direkt über meine Bluetooth Ohrknöpfe. Die elektronische Speisekarte offeriert mir mehrere Getränke zur Auswahl, eine Limonade wird von einer äußerst attraktiven Dame angeboten. Die nehme ich, ich bin halt einfach gestrickt.
Einkaufen mal anders
Zu Hause wieder angekommen, kann ich nun meinen Artikel beenden. Ich schneide das Interview, schreibe einen Artikel mit nur 4000 Wörtern (mehr ist dem Leser 2010 nicht mehr zuzumuten) und sende alles meinem Chef. 16 Uhr Feierabend, nun noch die Kinder von der Ganztagsschule abholen und einkaufen.
Natürlich könnte ich einfach den vom Kühlschrank erstellten Warenkorb digital versenden und mir die Produkte dann unter Aufpreis von einem Dienstleister bringen lassen. Einkaufen ist aber heutzutage eine stressfreie Freizeitgestaltung und ein echtes Event für Groß und Klein. Wir fahren zum Karstadt Einkaufszentrum. Karstadt konnte sich mit einem tollen österreichischen Patent retten. Es sind die Einkaufswagen.
Denn Karstadt ist eher "Carstadt". Vorne am Eingang suchen sich die Kinder bereits einen schicken Rollwagen aus. Diese einachsigen Roller mit Einkaufskorb bewegen sich mittels Gewichtsverlagerung auch Senioren tauglich. Ich verabrede mit Max und Johanna einen Treffpunkt, beide flitzen sofort los. Natürlich muss ich nicht befürchten, dass mir die Kinder verloren gehen, schließlich kann ich sie jederzeit mittels meines Kommunikators orten und mit Ihnen in Verbindung treten. Karstadt hat extra für die Kids einen Titus Parcours im Keller aufgebaut, da können sie sich austoben. Ich gewähre ihnen 10 Euro Taschengeldkredit.
In den Touchscreen des Einkaufrollers gebe ich meinen individuellen Miele Odysseus Code ein. Jetzt sehe ich alle Waren, die uns zu Hause fehlen, und kann völlig entspannt die Einkaufsfahrt aufnehmen. Wirklich nervig sind allerdings die akustischen Werbeeinspielungen, die dauernd wechselnd in meinem Bluetooth Ohrknopf säuseln. Ich stelle diesen daher auf stumm, damit mich nur die Anrufe erreichen. Am Ende bezahle ich an einem Standterminal. Auf dem Parkplatz fällt mir ein, dass ich noch ein Produkt brauche, das es bei Karstadt nicht gibt. Da ich selbst auch nicht sicher bin, wo ich es kaufen kann, überlasse ich die Suche einem Google Terminal am Parkplatz. Die Dinger stehen wirklich überall herum. Da mir die Zeit fehlt, die Ware selbst abzuholen, beauftrage ich einen Bringdienst.
Prime Time
Digitales Fernsehen und Internet sind inzwischen derart zu einem Informationsmedium zusammengeschmolzen, so dass es mir manchmal schwer fällt, sie auseinander zu halten.
Werbefreie Spielfilme und Computerspiele kann man jederzeit "auf Verlangen" bei kostenpflichtigen Digitalsendern konsumieren. Die Gebühren für dieses werbefreie Fernsehen sind dabei jederzeit einzusehen und begrenzbar. Das hat mein Sohn beim Videospiel EA FIFA 2010 "Road to Southafrica" schon zu spüren bekommen. Überhaupt bleibt die Spielkonsole wegen Eigenbedarfes im Wohnzimmer. Inzwischen kann ich auch die Werbefilme dank Internettechnologie anklicken, um so zum Beispiel ein Reiseangebot nach Südafrika zu buchen.
Diese Weihnachten bekommt meine Frau etwas ganz Besonderes: Die neuen Goggle-Shades von Google. Mit dieser elektronischen Brille mit hoch auflösenden 3-D Bildschirmen kann sie dann in ferne Länder reisen, ohne das Haus verlassen zu müssen - Karibik "on Demand". Nachdem ich im Internet meinen biometrischen Pass verlängert habe, ist nun wirklich Feierabend. Ich gönne mir nun im Sportkanal aus der Serie "Golden Moments" das "Wunder von Berlin" für 1,75 EUR. Damals wurde Deutschland in einem legendären Spiel gegen England Fußball Weltmeister 2006.
Oh nein, mein Wecker klingelt. Alles nur ein Traum?