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DISPLAY ADVERTISING - Ethnomarketing

Nicht nur Hakan will umschmeichelt sein

Jens von Rauchhaupt, 17. November 2005

Sie heißen Acelya, Hakan, Katharina oder Boris. Zumeist sind sie jung, Marken orientiert, konsumfreudig und nutzen das Internet mindestens so selbstverständlich wie ihre "germanischen" Altersgenossen. Bereits Ende der neunziger Jahre, just als die Novellierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes hohe Wellen schlug, erkannte auch die Werbeindustrie, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Schnell machte der Begriff Ethnomarketing die Runde. Nun, gut sechs Jahre später, versetzen so genannte Ethnoportale die Werbekundschaft in Verzückung. Nebenbei ist mit diesen Portalen ein digitaler Integrationseffekt nicht ausgeschlossen.

Warum Ethnomarketing im Internet ?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ethnomarketing hat nichts mit exotischen Models in Baströckchen zu tun, auch handelt es sich nicht um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Jutesackträger mit Pensionsanspruch. Vielmehr skopieren Markt- und Werbeforscher damit eine Zielgruppe nach kulturellen Eigenheiten und Bedürfnissen und liefern ihre Ergebnisse an die, die etwas damit anfangen wollen. Es freut den Werbenden, wenn er eine exakte Kenntnis davon hat, wo sich seine Zielgruppe oder zumindest ein Teil davon aufhält.

Zahlen aus Wiesbaden und Berlin zuerst

Laut Bundesamt für Statistik leben in Deutschland derzeit 6,72 Millionen ausländische Staatsbürger aus 54 Ländern (Stand: Januar 2005). Ausländer und eingebürgerte Neudeutsche stellen etwa 10 Prozent unserer Bevölkerung. Allein in den letzten zehn Jahren haben 2,5 Millionen Zugewanderte die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Zwei Sprach- und Kulturgruppen sind besonders hervorzuheben: Mit 2,5 Millionen Menschen stellen die Türken die größte Anzahl. Dicht gefolgt von 2,3 Millionen Mitbürgern, die aus der ehemaligen Sowjetunion/GUS zuwanderten und inzwischen einen deutschen Pass besitzen.

Ob mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Alle haben etwas gemein: Die Zuwanderer und ihre Kinder haben einen starken Bezug zum Ursprungsland ihrer Ahnen, pflegen dorthin noch verwandtschaftliche Beziehungen, kommunizieren bevorzugt untereinander und ihre Sprache ist dabei ein Bestandteil ihrer eigenen Identität. "Wir alle besitzen mehrere Identitäten", so der große französische Politologe und Soziologe Alfred Grosser auf die Frage nach der deutschen Identität. Deutschtürken, Aussiedler und alle anderen Migrationsgruppen haben hierzulande wohl immer noch eine Identität mehr – verbunden mit allen Vor- und Nachteilen.

Acelya und Hakan sind bikulturell, bilingual und haben die Wahl

Die dritte Generation der gut 2,5 Millionen Türken - etwa 700 Tausend junge Mitbürger - wechselt zumindest online mit scheinbarer Leichtigkeit zwischen türkischer und deutscher Kultur. Im Internet vorrangig unter der Leitung des zweisprachigen Portale von vaybee.de aus Köln und turkdunja.de aus Hamburg.

Die Erfolgsgeschichte der Kölner Ethnoportal-Pioniere Tamer, Akgün und Hasim Kulmac begann im Jahr 2000. Damals ging vaybee! zunächst als Community an das mediale Netz. Vaybee bedeutet auf Türkisch etwa soviel wie das amerikanische "Whow". Erstaunt ist auch der objektive Betrachter von vaybee!. Dieses Portal gehört mit nachweisbar einer halben Million registrierten Mitgliedern und 1,5 Millionen Besuchern im Monat zur bestfrequentierten Kommunikationsplattform der Deutschtürken. "Wir wollen die jungen türkischen Menschen ansprechen", so Marketingchef Tamer Kulmac und liegt damit im Trend des Onlinemarketings. Schließlich wissen wir spätestens seit der neusten AGOF-Studie, dass die unter 29-Jährigen nahezu komplett im Internet anzutreffen sind. Auch die Geschlechterverteilung liegt mit 60 Prozent männlichen zu 40 Prozent weiblichen Nutzern nur leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt.

Daher setzt vaybee! auf eine Mischung von Infotainment, Lifstyle und Servicediensten und hält für das registrierte Mitglied alles bereit, was ein Internetportal beherbergen sollte, um den Nutzer langfristig zu binden: SMS-Messaging, E-Mail-Account, ein Chatsystem, zahlreiche Foren und ein Clubkarten-Rabattsystem. Das Portal wird von Orange Media vermarktet. Wie es scheint, sehr erfolgreich. Auch deutsche Mobiltelefonanbieter, Krankenkassen und Onlinebanken gehören zu ihren Werbekunden.

Wer sein Produkt oder seine Dienstleistung etwas günstiger, aber kaum minder effizient an den türkischen Mann oder die türkische Frau bringen möchte, der könnte bei turkdunja.de gut aufgehoben sein. Hierbei handelt es sich um ein klassische zweisprachige Community mit Nachrichten, Chat- und Forensystem. Die Zahlen von turkdunja.de (türkische Welt) erregen Aufmerksamkeit: "Wir haben nach jüngsten Messungen 650 Tausend Mitglieder und 820 Tausend Besucher im Monat", so der deutschtürkische Inhaber und Seitenbetreiber Bekir Eyienging. Turkdunja.de setzt dabei auf eine etwas andere Vermarktungsstrategie. Mit TurkNetmedia führt man die Vermarktung der Werbeflächen in Eigenregie durch.

Für beide Seitenbetreiber geht es nun um die Qualitätssteigerung des Internetauftritts, denn: "Zuwächse in den Mitgliederzahlen sind nicht mehr zu erwarten, die Grenze des Möglichen ist erreicht", so Eyienging von turkdunja.de. Beide türkischen Betreiber planen daher einige multimediale Überraschungen, über die noch der Mantel der Verschwiegenheit gebreitet ist.

Die Türken sind somit in der deutschen Internetlandschaft gut versorgt. Die Werbeindustrie hat ideale Möglichkeiten über die türkischen Ethnokanäle die junge und konsumhungrige Zielgruppe anzuvisieren.

Fast völlig vernachlässigt: Katharina und Boris

Betrachtet man Internetpräsenzen mit russisch-deutschem Hintergrund ergibt sich ein diffuses Bild. Vor allem für den, der kein Russisch spricht. Zahlreich sind die Internetseiten mit ".de" Kürzel in rein russischer Sprache. Vorrangig handelt es sich um russische DVD- und Musikangebote oder um Zeitungsableger ohne Werbewillen. Laut Pisa Studie 2002 haben die Aussiedler aus der Sowjetunion ein handfestes Problem mit der deutschen Sprache:

Bei 34,5 Prozent der 15-Jährigen mit einem Migrationshintergrund aus der ehemaligen Sowjetunion wurde der Vater im Ausland geboren und 45 Prozent der Jugendlichen dieser ethnischen Gruppe kommunizieren zu Hause ausschließlich in russischer Sprache.

Hier wird deutlich, dass die erste Generation mit dem Kopf in Russland geblieben ist und die zweite Generation erst das Erwachsenenalter erreichen muss, um deutsche Werbeinhalte im Internet anzunehmen. Schließlich hat die dritte Generation der Aussiedler kaum das Licht der Welt erblickt. Dennoch: 1997 war jeder dritte Spätaussiedler in Nordrhein-Westfalen jünger als 18 Jahre, so die Zahlen der nordrheinwestfälischen Landesstelle Unna-Massen. Bei den Deutschen ist nur jeder Fünfte unter 18 Jahre alt.

Eine junge Zielgruppe also, an der die deutsche Online-Werbung unbeachtet vorbeizieht, wenn die Medienplaner keinen Kanal zu erfahrenen Russlandexperten aufbauen. Der Begriff der Parallelgesellschaft ist hier so aktuell wie bei den türkischen Mitbürgern vor über 20 Jahren. Hier böte gezieltes Ethnomarketing im Internet ein neues Arbeitsfeld.

Doch es gibt auch einen Lichtblick: Mit germany.ru hält das Internet bereits ein russisch-deutsches Schmuckstück für die ausgewanderten Enkel Lenins bereit, das ähnlich einem Fabergé-Ei Überraschendes in sich trägt. Leider völlig vernachlässigt vom deutschen Werbemarkt. Dabei kann der im Jahre 1999 zugewanderte Seitenbetreiber Andreas Brückmann, wie der Goldschmied Fabergé in Sankt Petersburg geboren, auf 310 Tausend registrierte Mitglieder und 900 Tausend Besucher pro Monat blicken.

"Wir sind eine Community und ein Internetportal, 75 Prozent unserer Mitglieder wohnen in Deutschland und seit unserem Start im Jahr 1999 gab es noch keinen Monat ohne Wachstum hinsichtlich der Mitglieder- und Besucherzahlen."

germany.ru ist ebenfalls durchweg zweisprachig aufgebaut und setzt wie seine türkischen Pendants vaybee! und turkdunja auf Kommunikation. Dies hat allerdings auch noch einen besonderen Hintergrund. Das russische Telefonfestnetz ist völlig marode und unzuverlässig. Daher behelfen sich viele Aussiedler mit dem Chatsystem von germany.ru, wenn sie Neues aus der alten Heimat erfahren wollen.

Letztlich können auch kommerzielle Ethnoportale bei der Integration sozial benachteiligter Migranten helfen, wie Jutta Croll, Geschäftsführerin der Stiftung digitale Chancen zu berichten weiß: "Zum Beginn des Jahres 2006 wird unter www.surfen-zum-job.de eine Guided Tour zum Virtuellen Arbeitsmarkt in Türkisch und Russisch online gehen."

Vielleicht findet sich dann ein entsprechender Hinweis bei vaybee, turkdunja oder germany.ru?

Link: www.digitale-chancen.de

Über den Autor/die Autorin:

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