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CONTENT MARKETING

Wie werden Webseiten zu etwas Besonderem?

Frederik Timm, 24. Oktober 2018
Bild: Kelley Bozarth; CC0 - unsplash

Viele Adtech-Unternehmen und Marketingplattformanbieter betonen in ihren Angeboten besonders gerne die User Experience. Im Interview mit ADZINE spricht Online-Marketing-Consultant Karl Kratz über die Frage, was Webseiten zu etwas Besonderem macht und wie Marken diesen Effekt für ihre Nutzer erreichen können.

Seit 1996 entwickelt Karl Kratz für seine Leser und Klienten holistische Online-Marketing-Strategien. Der schwäbische Unternehmer gründete und entwickelte mehrere Firmen und knapp drei Dutzend mittelständische Marken. 2009 zog sich der Autor von Online-Marketing-Publikationen wie „Haifischbecken Internet Marketing” und „Welcome to the System” aus dem operativen Geschäft zurück und betreut seither im Rahmen des karlsCORE-Programms einen kleinen Kreis ausgewählter Online-Marketing-Teilnehmer.

ADZINE: Hallo Herr Kratz, das Angebot Ihres karlsCORE-Programms umfasst unter anderem auch ein Tool, das Webseiten auf ihre Performance hin überprüft und Hinweise auf Verbesserungen liefert, was macht in Ihren Augen das Erleben einer Webseite „besonders“?

Karl Kratz: Es gibt Momente, in denen sitzen Menschen mit geweiteten Pupillen, einem extremen Fokus und einem Gefühl angenehmer Aufregung vor dem Bildschirm. Wenn man einen Menschen in diesem Zustand an ein EEG anschließt – ein Gerät aus der medizinischen Diagnostik, um Gehirnaktivitäten zu messen –, lässt sich eine besondere Form von Gehirnaktivität feststellen. Lässt man diese Person dann etwas subjektiv "Langweiliges" betrachten, verschwindet die eben beobachtete Gehirnaktivität wieder.

Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Gefühl einer "Besonderheit" ins Gehirn des Betrachters zu injizieren: Humor, Staunen, die Erzeugung kognitiver Dissonanz und so weiter. Wer mit offenen Augen durchs WWW surft, stellt jedoch schnell fest, dass der größte Teil der Websites die Fähigkeit verloren hat, ein Gefühl der Besonderheit zu erzeugen: Es ist ein Einheitsbrei aus klinischer, weichgespülter Phrasendrescherei, kombiniert mit aalglatten Stockfotos und maximaler Konformität ... immer in der irren Annahme, „der Kunde wolle das so".

Das Konzept der Entropie gibt uns da ein paar wertvolle Hinweise: Im Laufe unseres Lebens „kickt" uns immer weniger, wir stumpfen ab und wir benötigen immer größere Informationsmengen, um daraus überhaupt noch etwas Wertvolles zu extrahieren.

Doch einer Sache können wir uns definitiv nicht entziehen, egal, wie abgestumpft und dissoziiert wir vor unseren Monitoren sitzen: dem Gefühl echten, kindlichen Staunens. Und selbst wenn jemand ein Pokerface aufsetzt und behauptet: „Das kickt mich jetzt nicht." – Ein Blick aufs EEG zeigt jedes Mal, was für eine regelrechte Synapsenparty im Gehirn stattfindet, wenn etwas „Unerklärliches", „Neues", ein „Wow-Effekt" geschieht.

Jeder im Online-Marketing ist ein Architekt für die „neue Realität" im Kopf des Betrachters und verantwortlich dafür, seinen Produkten, Dienstleistungen, Angeboten diesen Moment des "Erstaunens" wieder zurückzugeben. Und das erzeugt wiederum Websites, die ein besonderes Erleben ermöglichen.

ADZINE: Wie können Marken diesen Effekt des „Besonderen“ erzielen?

Kratz: „Einzigartigkeit" ist eine wunderbar direkte Eintrittskarte in die Aufmerksamkeit und Neugier der Menschen. Echte Einzigartigkeit entsteht aus purer Inspiration heraus – sozusagen dem Antagonisten der Imitation. Echte Inspiration wiederum entsteht über ein Durchdenken von (Gedanken-)Pfaden, die noch nie gedacht wurden – bei einer gleichzeitigen Abwesenheit aller bereits erdachten Wege.

ADZINE: Welche Marketingsysteme/-plattformen sind nötig, um Nutzer zu begeistern und zu binden?

Kratz: Die Systeme, die Menschen mit einer kognitiven Leichtigkeit nutzen bzw. bedienen können. Alles, was kompliziert ist und nicht innerhalb eines „Aufmerksamkeitsframes" eine Belohnung verspricht, ist „doomed to fail".

Das „Marketingsystem" bzw. die „-plattform" tritt dabei in den Hintergrund. Es gilt: „Sobald die Aktion einfacher ist als das Denken, kommt Mensch in die Handlung."

Nicht Marketingsysteme begeistern Nutzer – es sind die Architekten, die im Vorfeld definieren, welche Emotionen die Betrachter wahrnehmen sollen.

ADZINE: Was sind die häufigsten Fehler, die dabei gemacht werden und wie lassen sie sich verhindern?

Kratz: Sich Beispiele anzuschauen, „wie es andere machen". Wer sich anschaut, „wie es andere machen", beginnt zu imitieren. Das ist für den Schritt von null zum Durchschnitt in Ordnung, ab dann gelten andere Regeln. Echte Einzigartigkeit entsteht aus Inspiration – der puren Abwesenheit aller bisher gedachten Wege.
In Kombination mit Mutlosigkeit ist Imitation aus meiner Sicht einer der häufigsten Fehler – noch weit vor der Wahl fürs falsche Marketingsystem oder einer Budgetfehlentscheidung.

ADZINE: Zum Schluss noch ein kurzer Schwenk hin zu dem, was die Personalisierung im Online-Marketing ausmacht, den Daten. Was halten Sie von dem mittlerweile doch sehr abgenutzten Spruch: „Daten sind das neue Öl“?

Kratz: Öl kommt gerade wirklich hart aus der Mode. Erneuerbare Energien sind der heiße Scheiß. Im Ernst: Was bringt mir Öl, wenn ich es nicht verarbeiten kann? Daten brauchen Interpretation, Verarbeitung, Anwendung. Ansonsten ist es tatsächlich nur ein Rohstoff.

Zu jedem Datenpaket gehört eine rechtlich, technisch und kontextuell einwandfreie Erhebung, eine datenschutzkonforme Verarbeitung, eine intelligente Interpretation, Ausgabe usw.

Ich kenne sehr viele Unternehmen, die auf riesigen Datenbergen sitzen, aber nichts damit anfangen können. Und ich kenne kaum Unternehmen, die mehr als 20–30% ihrer verfügbaren Daten im Unternehmen tatsächlich smart nutzen.

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